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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Lunch eingeladen. Heute nicht.
    »Der Chatterton?« fragte sie und schob ihr dunkles, dichtes Haar mit einer Hand ohne Ehering zurück. »Ich finde, das Bild läßt einen nicht mehr los.« Sie schaute von dem Bild zu Melrose.
    Sie hätte es sein können, dachte er.
    Sagte aber: »Ja, es liegt an dem Chatterton.«
22
    »Verzeihung«, sagte Lady Cray beinahe als erstes, und Melrose erinnerte sich sofort an die Frau in der Tate. »Ich habe Fanny dümmer beschrieben, als sie war.« Sie überreichte Melrose ein dickes Whiskyglas, wohlgefüllt mit Virginia Gentlemen, Fanny Hamiltons Lieblingsdrink. »Prosit.«
    Sie hoben die Gläser und tranken. Der Whisky war mild, aber süß wie Likör. Trotz des übersüßen Geschmacks war Melrose froh darüber und noch froher über den Teller Hühnchensandwiches, den ihm das kleine Hausmädchen gebracht hatte. Denn als er in die seidigen Polster eines eisblauen Sessels sank, merkte er, daß er nach den Mühen und Plagen des langen Morgens erschöpft war. Mittlerweile war es nach vier Uhr, und er hatte noch weitere Besuche vor sich.
    »Ich glaube, ich habe Superintendent Jury einen falschen Eindruck vermittelt. Das war ungerecht.« Das Glas in beiden Händen, lehnte sie sich in die Sofapolster zurück und schaute zur Decke.
    »Aber es ist ja nie zu spät, es zu korrigieren.« Er lächelte und dachte, wie angenehm es war, in diesem Zimmer, das ihn an eins in Ardry End erinnerte, zu sitzen und sich mit einer Frau zu unterhalten, die seiner Tante alles andere als ähnlich war. Was für ein Unterschied, Lady Crays Gesellschaft und das Gespräch mit ihr! Sie war vermutlich so alt wie Agatha, vielleicht ein wenig älter. »Richard Jury interessiert sich besonders für Mrs. Hamiltons Reise nach Amerika. Das heißt, die Zeit nach ihrem Aufenthalt in Pennsylvania.«
    Lady Crays Gesicht nahm einen noch sorgenvolleren Ausdruck an, als sie nachdenklich hochschaute. Als werde er von den Stuckengeln hervorgerufen, deren knubbelige Händchen Stuckvorhänge hochhielten. »Superintendent Jury meint, es bestehe eine Verbindung zwischen Fannys Tod und der Frau, die in Exeter gestorben ist.« Sie seufzte. »Ich habe keine Ahnung, wie er auf diese Idee kommt.«
    »Ich glaube, es ist gar nicht seine. Sondern die eines Divisional Commander, der sich allerdings selten irrt.«
    Von irgendwoher aus den Tiefen eines Raumes jenseits des Zimmers erklang Flötenmusik. Flötenmusik und dann eine Art tiefer Sprechgesang. Vollkommen anders als die Klänge, an die Melrose gewöhnt war. Er fragte, was es für Musik sei.
    »Fannys. Sie hat sie aus dem Südwesten mitgebracht. Ich glaube, es ist die Musik der amerikanischen Ureinwohner. Ich finde sie sehr beruhigend.«
    »Ich auch.« Melrose dachte einen Moment nach und fragte dann: »Wie war ihr Neffe?«
    Lady Cray überlegte sich die Antwort gut. Weil sie Fanny Hamilton unrecht getan hatte, wollte sie diesmal vielleicht sichergehen, daß sie dem Neffen Gerechtigkeit widerfahren ließ. »Ehrlich. Er war ehrlich. Das hat mich beeindruckt.«
    Melrose nickte, trank und wartete, daß sie weiterredete.
    »Und wenn man ehrlich ist, hat man vielleicht nicht viele Freunde. Die anderen finden einen lästig, und man selbst hält sie umgekehrt für, hm, oberflächlich. Denn nichtehrliche Menschen reden über alles auf Gottes weitem Erdboden, nur nicht über das, was sie wirklich denken und fühlen. Das tun wir alle viel zu selten. Wir verkümmern, wir machen von unseren Möglichkeiten keinen Gebrauch.« Lady Cray studierte ihr Glas.
    Melrose murmelte beifällig und schaute an dem Marmorkamin vorbei zu der Verandatür in den kleinen Garten. Die Flöte war abwechselnd weit entfernt, unheimlich, gespenstisch, klar und dann wieder ganz nahe. »Und sie ist sofort nach Amerika geflogen.« Er sah, wie die zarten Zweige einer Zierweide von einem heftigen Windstoß hochgehoben wurden und dann auf den Betonboden eines leeren ovalen Teichs herabfielen. Er dachte an Watermeadows. Er dachte an Hannah Lean. Arme Hannah. »Kann man sich etwas Schlimmeres vorstellen, als den Menschen zu verlieren, der einem am meisten bedeutet? Ich weiß nicht, wie ich damit fertig würde.«
    »Aber Sie mußten es doch auch. Ihre Eltern sind doch beide tot.«
    Er wandte den Blick nicht von den hängenden Zweigen der Weide und dem leeren Teich ab. »Ja«, sagte er einfach.
    »Na also.« Sie trank ihr Glas aus.
    Na also.
    Das Licht war milchig geworden, beinahe trübe, dick und dicht wie Nebel. Die Dahlien im Beet

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