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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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von der gruseligen Dunkelheit im Erdinneren befreit, atmete er auf, beobachtete, wie ein Schnellboot über den Fluß zischte, und schaute nach oben, wo die Sonne die winzigen Blätter in den Baumkronen wie Münzen aufblitzen ließ. Das Licht hatte ihn wieder!
    Das Bedürfnis, wieder ein Gefühl für seine eigene Gestalt zu gewinnen, indem er die Gestalten anderer - Bilder, Skulpturen - betrachtete, trieb ihn in die Tate Gallery. Im Vorraum der »Swagger«-Ausstellung (die verlängert worden war) mietete er Kopfhörer und Kassettenrecorder. Melrose liebte audiovisuelle Führungen, weil er gern Geschichten erzählt bekam. Diese wurde von einem Schauspieler mit vornehmer, klarer Stimme erzählt, der Begeisterung für die Gemälde ausdrückte, ohne pompös oder salbungsvoll zu klingen. Und was für Bilder! Die ersten waren wunderbar protzig: auf Wolken sitzende Figuren, deren Füße auf Schädeln ruhten. Dann kamen die herrlichen Bilder von Reynolds und die prächtigen van Dycks, deren Figuren vornehm und würdevoll aussahen und dem wirklichen Leben weit entrückt. Eine Fahrt mit der Victoria Line würde euch Mores lehren, dachte Melrose mit überheblichem, kleinem Lächeln.
    Er befolgte die strikte Anweisung des Sprechers, die Kassette anzuhalten, während er in den nächsten Raum ging. Verstohlen schaute er sich unter den Galeriebesuchern um. Eine Frau im mittleren Alter hatte die Kopfhörer abgenommen, ein dünner junger Mann ließ seine in der Hand baumeln, aber die meisten Leute hatten gar keine. Freigeister. Er zuckte die Achseln. Oder arme Schlucker. Er ließ die Kassette wieder laufen und lauschte den Bemerkungen zur britischen Schule. Ja, es stimmte, die Figuren schienen ein wenig lockerer, natürlicher, nicht so erfüllt von protziger Selbstüberheblichkeit ... Oh, das Bild von Mrs. Sid-dons! Die unglaubliche Textur und Farbe des Samtgewandes! Kastanienbraun? Tief dunkelbraun? Herrlich!
    Dann erblickte Melrose durch die Tür ein Porträt, bei dem er stocksteif stehenblieb. Er wußte weder, wer die Dargestellte (eine Mrs. Chambers, fand er schließlich heraus) noch wer der Maler war (Lawrence), aber es war so überwältigend schön und ähnelte dem Porträt seiner Mutter im Speisesaal von Ardry End so sehr, daß er sich wahrhaftig fühlte, als habe ihm eine enorme Hand vor die Brust geschlagen und ihn zurückgestoßen. Zum erstenmal empfand er, was es bedeutete, wenn einem etwas »den Atem raubt«. Diese Augen! Das gelbliche Licht strahlte von dem Kleid nach oben ab und ergoß sich über die Haut der Frau. Beim ersten Hinsehen von der anderen Seite der Tür hatte er gedacht, dieses Porträt werde gesondert beleuchtet, es schien sogar selbst eine Lichtquelle zu sein.
    Lange betrachtete Melrose Mrs. Chambers, und als er es nicht mehr aushalten konnte, ging er weg und gab den Kopfhörer ab.
    Er fand Raum 9, der die präraffaelitischen Gemälde beherbergte, und dann auch die Bank, auf der Mrs. Hamilton gesessen haben mußte. Er nahm Platz. Hier mußte es gewesen sein, nach dem, was Jury gesagt hatte, genau vor dem Bild Chattertons und dem William Holman Hunt. Letzteres war nicht mehr dort; vermutlich hatte man es umgehängt. Aber der Chatterton war da. In die »Swagger«-Ausstellung mit den protzigen Bildern der feinen Gesellschaft hätte er nie Aufnahme gefunden. Chatterton hatte nichts Protziges. Vielleicht nicht die glücklichste Entscheidung, wenn er, Melrose, sich in seiner momentanen Stimmung vor dieses Bild setzte.
    Er fragte sich, wie andere Menschen mit Verlusten fertig wurden, dem Verlust von Menschen und Orten. Offenbar gelang es allen besser als ihm, aber woher wollte man das schon wissen? Und wer weiß, ob alle damit fertig werden mußten?
    Er dachte an Nancy Fludd. Sie hieß nicht Nancy, aber er fand, der Name paßte zu ihr, und er mochte sie nicht mehr Miss Fludd nennen. Wie wurde Nancy mit ihrer eingeschränkten Welt fertig? Wie erklärte und begriff sie sie, bewohnte sie, gab ihr Farbe und Gestalt? Wahrscheinlich konzentrierten sich viele Menschen so sehr auf die Zukunft, daß sie die Vergangenheit als überflüssig erachteten. Besonders die jungen. Hatte er je Bedauern oder Reue empfunden, als er jung war? Vermutlich nicht. Er war sicher genauso unreif wie dieses Paar Beatrice und Gabe gewesen, die nicht einmal gemerkt hatten, daß neben ihnen eine Frau starb.
    Er erinnerte sich daran, was er im Türrahmen des letzten Raumes der »Swagger«-Ausstellung empfunden hatte, als es ihm den Atem

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