Blinder Einsatz
ihrer Intensität eingebüßt. Doch ich nahm mir zu wenig Zeit für unsere Tochter. Dennoch teilten wir viele glückliche Momente. Immerhin fuhren wir regelmäßig zu dritt in den Urlaub.
Helen hat mir meine Arbeitszeiten nie vorgeworfen. Von Anfang an hatten wir beide akzeptiert, dass man in einer Ehe eben Opfer bringen muss. Bei unserem ersten Treffen hatte mich ihre unverwüstliche Energie fasziniert. Und auch zehn Jahre später glaubte ich noch an Helen und an ihren Elan.
Ich liebte meine Tochter. Nie wollte ich sie enttäuschen. Soweit ich mich erinnere, habe ich weder einen Geburtstag noch ein Sportturnier versäumt. Wenn sie mich mit ihrem zarten Stimmchen fragte: »Papa, bist du Samstag zu meinem Geburtstag da?«, was hätte ich da anderes antworten sollen als: »Natürlich, meine Süße, natürlich bin ich da.«
Das Wichtigste für mich war, in ihren Augen die Freude zu sehen und ihr Tränen der Enttäuschung zu ersparen. Trotz aller Versäumnisse war ich nicht der ständig abwesende Vater, der seine Versprechen nicht hielt.
Heute ist mir allerdings klar, dass ich nur dann für sie da war, wenn sie mich darum bat. Nicht mehr und nicht weniger. Das löst noch immer ein schmerzliches Gefühl in mir aus.
Dieses zerbrechliche Gleichgewicht hielt zehn Jahre. Im Sommer 2000 wurde Helen krank. Zu Anfang war sie nur müde und versicherte mir, es bestehe kein Anlass zur Sorge. Als Ärztin ergriff sie die nötigen Vorsichtsmaßnahmen. Sie unterzog sich rasch verschiedenen Untersuchungen, die keinen Zweifel an ihrer Krankheit ließen: Sie hatte Schilddrüsenkrebs. Sie arbeitete immer weniger und verbrachte immer mehr Zeit als Patientin im Krankenhaus. Wir stellten ein Au-pair-Mädchen ein, das sich um unsere Tochter kümmerte. Ich arbeitete noch immer genauso viel, der Internetmarkt explodierte förmlich. Wir waren zur rechten Zeit am rechten Ort. Das zumindest war meine Überzeugung, als sich der Wert unserer Firma innerhalb weniger Monate vervierfachte. Heute kann ich das nicht mehr von mir sagen.
Helens Gesundheitszustand verschlechterte sich in den folgenden zwei Jahren drastisch, trotz umfangreicher Therapien, die außer Nebenwirkungen wenig Besserung brachten. Nun musste ich mir mehr Zeit für die Familie nehmen. Ich besuchte meine Frau im Krankenhaus, musste unsere Tochter von der Schule abholen, ihre Hausaufgaben überwachen und ihr Essen machen. Sie war herangewachsen, ohne dass es mir aufgefallen wäre. Wir hatten bisher keinen gemeinsamen Alltag gehabt, und ihre Gewohnheiten waren mir fremd. Ich entdeckte ihre Vorlieben und Ängste. Das erschreckte mich. Ganz plötzlich wurde mir bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist, und wie wenig ich am Leben der Menschen, die ich liebte, teilhatte. Ich hatte den Eindruck, sie würden mich alle zur selben Zeit verlassen, ohne dass ich ihnen noch das Wichtigste gezeigt hatte, nämlich wie sehr ich sie liebte.
Am 20. April 2002 rief mich das Krankenhaus an. Helen verlangte dringend nach mir. Ich war mitten in einem Meeting. Ich fuhr so schnell wie möglich zu ihr, denn sie war am Ende ihrer Kräfte. Ich habe sie in ihren letzen Momenten begleitet. Dann fand ich meine Tochter in Tränen aufgelöst auf einem tristen Krankenhausflur. Als sie mich sah, wich ihre Trauer der unglaublichen Wut einer Zwölfjährigen.
»Du bist schuld. Du warst nicht da, um sie zu retten. Du hast Mama getötet.«
Verletzende Worte für mich als Vater und Ehemann. Darüber hinwegzukommen war nicht leicht. Später erzählte mir meine Tochter den Grund dafür. Als meine Frau spürte, dass ihre Kräfte sie verließen, wollte sie unbedingt ein letztes Mal mit mir sprechen und ließ mich anrufen. Da sie nicht wusste, wann ich kommen würde, vertraute sie sich unserer Tochter an. Sie gab ihr mit auf den Weg, dass man nicht immer stark sein müsse und stets seine Gefühle zeigen solle. Ja, manchmal habe sie sich allein gefühlt. Über mein erfülltes Leben habe sie sich gefreut, doch glücklich sei sie nicht gewesen. Meine Tochter hatte vielleicht nicht alles verstanden, aber es blieb ihr ein vereinfachtes Bild in Erinnerung: Es war meine Schuld, denn ich war nicht oft genug da gewesen. Helen war tot.
Als Ehemann hatte ich versagt, nun wollte ich wenigstens meiner Vaterrolle gerecht werden.
III
Zwei Monate vor der Entscheidung
10. und 11. Juli
1
Nichts verliert man leichter als den Sinn fürs Spiel.
Jim Harrison, Schuld
London
Seit seiner Flucht aus dem Gore Hotel fühlte sich Noah auf
Weitere Kostenlose Bücher