Blinder Hass
verdammt einsam hier draußen. Und außerdem hat Dad sich gleich dort hinten umgebracht. Ich krieg immer noch eine Gänsehaut, wenn ich an einem Winterabend hier draußen bin.«
»Jetzt ist es aber doch schön«, sagte Virgil. Die Sonne ging allmählich am Horizont unter, und am blassblauen Himmel waren ein paar dünne Wolken zu sehen. Es wehte gerade so viel Wind, dass die Blätter im endlosen Meer von Mais leise raschelten.
»Komm mit«, sagte sie. »Ich zeig dir, weshalb das Haus so weit von der Straße entfernt ist. Wir müssen uns beeilen, bevor es zu dunkel wird. Nimm deine Kamera mit.«
Virgil holte die Nikon mit bildstabilisiertem 10fach-Zoom aus dem Truck und folgte Joan um die Scheune herum, vorbei an morschen Balken, die wohl zu einem ehemaligen Schweinestall gehörten, an einem alten Birnbaum und zwei Apfelbäumen und dann leicht schräg hinunter zu einem Bach. Ein ausgetretener Fußweg führte am Ufer des Bachs entlang auf den Hang zu. Als sie näher kamen, sah Virgil, dass der Bach aus einer Spalte im Hügel kam und in einen breiten, flachen Wassertank aus Stahl lief. Was aus dem Tank überlief, floss wieder in den Bach zurück.
»Viel mehr Wasser kriegen wir hier nicht«, sagte sie. »Hier ist es nämlich etwas trockener als weiter im Osten. Komm mit.«
Sie führte ihn zu der Spalte im Hang, in eine schmale, felsige Schlucht hinein, die leicht anstieg und sich allmählich auf sechs Meter verbreiterte. Der Bach schoss neben ihnen nach unten, und das hoch aufspritzende Wasser traf ihn kühlend an Gesicht und Händen.
»Komm immer weiter …«
Am oberen Ende der Schlucht, etwa zweihundert Meter in den Hang hinein, war ein natürlicher Felsentümpel, gut fünfzehn Meter im Durchmesser, der von einer Quelle gespeist wurde, deren Wasser die Rückwand der Schlucht herunterstürzte. Einige kleine Bäume hielten sich mühsam in dem dünnen Boden am Leben, und auf einem offensichtlich sumpfigeren flachen Stück Ufer auf der gegenüberliegenden Seite wuchsen Rohrkolbengewächse. »Cool«, sagte Virgil.
»Auf topografischen Karten heißt das Stryker-Pool«, sagte sie. »Als Kinder sind wir zum Schwimmen hierhergekommen. Abends ist es angenehm, wenn die Sonne in die Schlucht scheint. Morgens ist es ein bisschen düster und kalt.«
Virgil trat ans Wasser und steckte eine Hand hinein. Kühl, aber nicht eisig, stellte er fest und sagte das auch.
»Weil das Wasser im Sonnenschein den Felsen dort herunterfließt«, sagte Joan. »Im Herbst trocknet die Quelle fast aus, dann ist sie nur noch ein feuchter Fleck auf dem Felsen. Der Pool trocknet allerdings nie aus, dafür ist er zu tief - direkt vor dir geht’s sechs Meter nach unten -, aber manchmal läuft kein Wasser mehr heraus. Früher führte von hier ein Rohr hinunter, das den Wassertank versorgte. Jedenfalls ist das der Grund, weshalb die Farm überhaupt hier ist. Es gibt das ganze Jahr Wasser, ohne dass man viel dafür tun muss, man braucht es nur anzuzapfen. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte mein Urgroßvater vermutlich direkt an der Straße gebaut.«
Virgil machte ein Foto von ihr, wie sie auf einem Felsen am Rand des Pools stand. »Muss für dich als Kind doch toll hier gewesen sein«, sagte er.
»Das war es auch. Wenn nur mehr Leute in der Gegend gewohnt hätten, dann wär’s perfekt gewesen.«
Sie setzten sich auf den Felsen, der noch in der Sonne lag, und Virgil zeigte ihr, wie die Nikon funktionierte. Ein Rotschulterstärling kam angeflogen, machte ein paar Kunststückchen auf den Rohrkolbengewächsen, und Virgil fotografierte ihn dabei. Sie verglichen ihre Kindheit in der Kleinstadt, redeten über die Jahre auf dem College, über Dope und Rock’n’ Roll, den Preis von Mais-Äthanol und über ihre Eltern. »Meine Mom wohnt eine Straße weiter, nur einen Block von mir entfernt«, sagte sie. »Mittlerweile weiß sie, dass du letzte Nacht versucht hast, mich zu befummeln.«
»Nur Teenager befummeln sich«, erwiderte Virgil. »Ich habe meine körperliche Zuneigung ausgedrückt.«
»Hm. Fühlte sich aber wie befummeln an«, sagte sie.
»Ich würde mir ja gern mehr Zeit nehmen, um alles richtig zu machen«, sagte Virgil. »Aber der Fall Gleason und Judd …«
Daraufhin sprachen sie über den Fall, und er versuchte, das Gespräch ein wenig zu lenken. »Deine Eltern waren also gut mit Judd befreundet? Glaubst du, dass deine Mom etwas darüber wissen könnte, was damals passiert ist? Da muss irgendwas gewesen sein. Und wer zum
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