Blinder Hass
Landwirtschaft?«
»Ich hab mal auf einer Farm gearbeitet, oben in Marshall«, sagte Virgil. »Einer von diesen Großbetrieben, die dem Hostess-Konzern gehören. Zur Erntezeit hab ich dann Ding Dongs und Ho Hos gepflückt, keine Twinkies, die wurden hauptsächlich am Red River hergestellt. Wir haben die Süßigkeiten in Schachteln verpackt und an die 7-Eleven-Läden geschickt. Harte Arbeit, aber ehrlich. Von dem Geld hab ich Luftgewehrmunition gekauft, um meine Familie zu ernähren. Die meisten Arbeiter aus der Gegend sind allerdings mittlerweile durch Illegale verdrängt worden.«
Sie betrachtete ihn zehn Sekunden lang, dann sagte sie: »Du kannst einem ja einen wunderbaren Scheiß erzählen.«
Die Stryker-Farm wartete bereits darauf, als archäologische Ausgrabungsstätte entdeckt zu werden. Ein halb verfallenes Gehöft, ein Waldstück voller ausrangierter landwirtschaftlicher Maschinen, zwei Schrottautos und eine Windmühle ohne Flügel. Die Farm befand sich eine Viertelmeile abseits einer Schotterstraße in einem Hain von Pyramidenpappeln am Fuße eines steilen Hangs, aus dem rote Felsnasen herausragten. Darunter, um die ganzen Farmgebäude herum bis nach Bluestem und eigentlich sogar bis nach Kansas City, war der schwärzeste Boden, den man sich überhaupt vorstellen konnte, mit einem wogenden Meer von Mais, Sojabohnen und Weizen.
Unter den ramponierten Gebäuden bildete die Scheune die einzige Ausnahme. Sie sah stabil aus. »Wir halten da keine Tiere, sondern benutzen sie nur noch für unsere Maschinen«, sagte Joan. »Einer der Nachbarn - du kannst seine Farm nicht sehen, weil sie etwa eine Meile entfernt ist - hat den Dachboden für sein Heu gemietet, das er bei sich nicht unterbringen kann.«
Das Haus, das etwa dreißig Meter von der Scheune entfernt auf der anderen Seite eines schlammigen Platzes lag, war kaum mehr als ein Schuppen. Ursprünglich war es eins dieser schlichten, biederen Schindelfarmhäuser ohne Veranda gewesen, wie sie im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert in den Great Plains gebaut worden waren, mit Holz- und Kohleofen und einer Handpumpe im Hof. Heutzutage befanden sich dort Büro und Aufenthaltsräume der Farm.
Der Fußboden der ersten Etage, die man nie so richtig hatte heizen können, war mit Wärmedämmung und Sperrholzplatten isoliert worden, um den Wärmeverlust im Winter gering zu halten, erklärte Joan. Die sanitären Einrichtungen waren vom Keller in das kleine hintere Schlafzimmer verlegt worden, und der Keller war jetzt nur noch ein Loch mit ein paar verrottenden Regalen voller leerer Einmachgläser.
»Vermutlich könnte ich für die Einmachgläser bei eBay zwanzig Dollar das Stück kriegen«, sagte Joan.
»Warum verkaufst du sie denn nicht?«
»Weil ich keine vierhundert Dollar brauche.«
Im Erdgeschoss gab es eine nur notdürftig funktionierende Küche mit einer Kochplatte, einer Mikrowelle und einer Spüle sowie einem Tisch mit sechs Stühlen. Die Spüle war an eine elektrische Pumpe angeschlossen. Im Wohnzimmer standen zwei ramponierte Sofas, und auf dem Boden waren schmutzige Fußspuren zu sehen, wo die Farmarbeiter durchgegangen waren. Auf einem Tisch im ehemaligen Esszimmer stand ein ältlicher Computer, daneben ein Hewlett-Packard-Drucker, und zwei Rollcontainer mit jeweils vier Schubladen waren gegen die verputzte Lattenwand geschoben worden.
»Nachdem die Straßen besser geworden waren, war es eigentlich unsinnig, tatsächlich hier draußen zu wohnen«, sagte Joan, während sie ihn herumführte. »Man musste alles herbringen und lebte völlig isoliert. Wenn man keine Tiere hatte, war die meiste Zeit nicht viel zu tun. Im Winter reparierte man alles Mögliche, und im Sommer musste man ein bisschen sprühen und mähen, doch hauptsächlich beobachtete man, wie der Mais wuchs oder der Weizen oder die Sojabohnen. In meiner Kindheit hatten wir schon diese ganzen Star-Wars-Maschinen. Da konnte eine Farmersfrau in der klimatisierten Kabine auf dem Traktor sitzen, mit einem Kassettenrekorder Rock’n’ Roll hören und die ganze Ernte allein bewältigen. Neunzig Prozent der Arbeit bestand aus Knöpfe drücken und Hebel ziehen. Da brauchte man hier kein Haus mehr. Ich meine, ganz so einfach war es auch nicht, aber fast.«
»Also bist du in die Stadt gezogen«, sagte Virgil.
»Sieh dich doch nur mal um«, sagte sie und wies auf den Horizont. »Wenn du da drüben hinschaust, siehst du das einzige andere Haus, aber da wohnt auch niemand. Es ist
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