Blinder Hunger: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
der Meister eines anderen Territoriums den Krieg erklärt hätte, wären wir besiegt worden. Wir sind schlicht zu wenige.«
»Warum machst du dann keine neuen?«, fragte ich, weil er darauf zu warten schien.
Er sah mich an, und sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an jemand anderen. In seinem Blick stand Schmerz und Verwirrung und jahrhundertelange Qual. Ich hatte ihn noch nie so offen, so menschlich gesehen. »Um jemanden zum Vampir zu machen, muss ich ihm seine Sterblichkeit, seine Menschlichkeit nehmen. Wer bin ich, dass ich das dürfte, ma petite? Wer bin ich, dass ich entscheiden dürfte, wer weiterleben und wer sterben soll?«
»Du meinst, du willst nicht Gott spielen?«
»Ja. Und wie kann ich wissen, was sich dadurch ändern würde? Belle pflegte unsere Macht einzusetzen, um Länder zu verändern, Kriege zu entscheiden, Herrscher auf den Thron zu bringen oder meucheln zu lassen. Es gab eine Zeit, wo sie mehr Macht über Europa hatte, als selbst der Rat wusste. Sie tötete Millionen in Kriegen und Hungersnöten. Nicht mit eigener Hand, nur durch ihre Entscheidungen.«
»Was hat sie schließlich gestoppt?«
»Die Französische Revolution und zwei Weltkriege. Selbst der Tod muss sich vor solch schamloser Vernichtung beugen. Jetzt hält der Rat bei seinen Mitgliedern die Zügel straffer. Die Zeiten, wo man in Europa solche geheimen Machtstrukturen aufbauen konnte, sind vorbei.«
»Freut mich zu hören.«
»Stell dir vor, ich mache jemanden zu unseresgleichen, der andernfalls vielleicht das Mittel gegen Krebs entdeckt oder eine bedeutende Erfindung hervorgebracht hätte. Vampire erfinden nichts, ma petite, wir verbringen all unsere Zeit mit Tod und Vergnügen und sinnlosen Machtkämpfen. Wir streben nach Geld, Komfort, Sicherheit.«
»Wie die meisten Leute.«
Er schüttelte den Kopf. »Aber nicht alle, und meinesgleichen wird angezogen von Menschen, die Macht oder Reichtum besitzen oder auf andere Weise auffallen. Durch eine schöne Stimme, eine künstlerische oder geistige Begabung oder Charme. Wir nehmen nicht die Schwachen wie es Raubtiere tun, sondern die Besten. Die Klügsten, die Schönsten, die Stärksten. Wie viele Leben haben wir im Lauf der Jahrhunderte vernichtet, die für die Menschheit, für die Welt eine wunderbare oder auch schreckliche Veränderung hätten herbeiführen können?«
Ich sah ihn an, und vor nicht allzu langer Zeit hätte ich dieser Freimütigkeit noch misstraut. Doch ich konnte ihn in meinem Kopf spüren. Ich machte mir Sorgen, ob ich ein Monster war. Jean-Claude dagegen wusste es sicher. Er lehnte sich deshalb nicht ab, denn er konnte sich ein anderes Dasein nicht vorstellen, aber er machte sich Gedanken um andere. Es beschäftigte ihn, dass er über andere entscheiden, die Rolle eines finsteren Gottes spielen konnte. Dass er eines Tages werden könnte, wovor er geflohen war. Eine Abart von Belle Morte.
Was tut man, wenn einem plötzlich jemand Einblick in seine dunkelsten Ängste gewährt? Was sagt man, wenn man so viel Wahrheit über jemanden sieht? Ich sagte das Einzige, was mir einfiel, das Einzige, was ein bisschen Trost bedeutete. »Du bist nicht wie Belle Morte. Du wirst nie so böse sein.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Weil ich dich eher töte, als es so weit kommen zu lassen.« Ich sagte es leise, denn es war nicht gelogen.
»Du würdest mich töten, um mich vor mir selbst zu schützen.« Er versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen, und versagte dabei kläglich.
»Nein, um die zu schützen, die du sonst vernichten würdest.« Das sagte ich nicht mehr leise.
»Obwohl du dich selbst dabei vernichten würdest?«
»Ja.«
»Obwohl du unseren gequälten Richard mit in den Tod reißen würdest?«
»Ja.«
»Und Damian auch?«
»Ja.«
»Sogar Nathaniel?«
Mir stockte der Atem, und die Zeit vollzog eine dieser Dehnungen, wo aus einer Sekunde Minuten werden. Bebend atmete ich aus und musste mir über die Lippen lecken, ehe ich antwortete. »Ja, unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Dass ich garantiert auch nicht überlebe.«
Er sah mich an und es wurde ein langer, langer Blick. Ein Blick, der mich bis in meine Seele hinein abschätzte, und ich erkannte, dass er genau das vor Jahren schon einmal getan hatte.
»Du hast mir mal gesagt, dass ich dein Gewissen bin. Aber das ist nicht alles, was ich bin, stimmt’s?«
»Wie meinst du das, ma petite?«
»Ich bin dein Notfallplan. Ich bin dein Richter, deine Geschworenen und dein Henker,
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