Blinder Instinkt - Psychothriller
betätigte abermals die Klingel. In ihm regte sich die unvernünftige Hoffnung, dass niemand zuhause war. Dann könnte er einfach wieder abhauen und alles auf sich beruhen lassen.
Feigling!
Drinnen ertönten Geräusche.
Eine Tür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Jemand schlurfte den langen, gefliesten Flur entlang.
Max machte sich bereit. Er stellte sich breitbeinig hin und zog die Schultern ein Stück vor. Die Hände steckte er in die Taschen seiner leichten Jacke und ballte sie dort zu Fäusten. Plötzlich war er sich sicher, kein Wort herausbringen zu können. Sein Hals war zu. Er konnte ja nicht mal mehr atmen!
Dann wurde die Haustür nach innen gezogen, und ein alter, immer noch großer Mann erschien, blieb aber im kühlen Schatten des Hauses. Er trug eine schlottrige Jeans, die nur durch Hosenträger gehalten wurde. Dazu ein rot kariertes Hemd. Die wenigen weißen Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Das Gesicht war unrasiert, die Haut wächsern und gräulich, fast durchsichtig. Er strömte einen schlechten Geruch aus, den Max nicht einordnen konnte. Aus schmalen, feuchten Augen starrte der alte Mann ihn an.
»Was gibt’s?«, fragte er. Eine knarrende Stimme ohne Tiefe. Aber eindeutig seine Stimme.
Vor ihm stand sein Vater.
Und der erkannte Max nicht. Jedenfalls nicht sofort. Doch dann schien der Groschen zu fallen, denn er trat einen weiteren Schritt vor, und seine Augen wurden noch schmaler. Ein Zittern lief durch die breiten Schultern, und die blassen
Lippen formten sich zu einem erstaunten O, ohne dass ein Laut sie verließ.
Minuten, Stunden, Tage und Jahre vergingen, während sie sich schweigend anstarrten.
»Du?«, sagte sein Vater schließlich, und es klang nicht ganz so abweisend, wie Max befürchtet hatte. Bildete er es sich ein, oder lag sogar ein Hauch Freude und Neugierde darin?
»Hallo, Vater!«, sagte Max. Das klang steif und abwertend, aber ein Papa wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen.
Der alte Mann trat hinaus in die Sonne. Max befürchtete, er würde wie ein Vampir sofort verbrennen, aber außer dass seine Haut noch gräulicher wirkte, passierte nichts.
»Ich …«, er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, »ich glaub es einfach nicht.«
Die Stimme seines Vaters zitterte, und wenn Max es nicht besser gewusst hätte, wenn all seine Erfahrung und Erinnerung nicht dagegen sprechen würden, dann hätte er gedacht, sein Vater stünde den Tränen nahe. Aber das konnte nicht sein! Er hatte ja nicht einmal geweint, als Sina verschwunden war, sondern nur getobt.
»Wie geht es dir?«, fragte Max. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. »Wo ist Mutter?«, schob er noch hinterher.
Sein Vater schüttelte den Kopf, wischte sich wieder über die Lippen und deutete schließlich mit seinem Kinn auf die Rampe. »Dialyse, dreimal die Woche. Seit drei Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Ein Bein mussten sie ihr schon abnehmen, das zweite ist dieses Jahr auch noch dran. Andere verschwinden plötzlich, sie Stück für Stück.«
Da lag keine Anteilnahme in seiner Stimme, nur der kaum
versteckte Vorwurf. Er ratterte es herunter, als wiederhole er die Wettervorhersage. Konnte ein Mensch wirklich so abgestumpft, so leer sein? Oder tat er seinem Vater unrecht? Lag es einfach nur daran, dass er seine Gefühle nicht zeigen konnte? Und wenn ja, dann fiel der Apfel nicht weit vom Stamm, und Max durfte sich kein Urteil erlauben.
Allerdings stimmte das seit gestern Abend auch nicht mehr, seitdem er in den Armen einer Frau geheult hatte.
»Das ist schlimm«, sagte Max und hörte, dass er genauso kalt klang wie sein Vater. Nicht nur klang; er fühlte wirklich nichts.
»Tja … Sie ist jetzt auch dort, kommt erst am Nachmittag wieder, du kannst sie also nicht sehen.«
Sein Vater blieb vor der geöffneten Tür stehen und ließ nicht erkennen, ob er seinen Sohn hereinlassen würde. Die Fäuste immer noch in den Taschen, starrte Max zu ihm hinauf.
Hatte dieser Mann, sein Vater, Sina getötet?
Jetzt, wo Max ihm gegenüberstand, erschien es ihm völlig abwegig. Zwar hatte er erst durch sein Verhalten ermöglicht, dass Sina entführt werden konnte, aber selbst Hand an sie gelegt … Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein.
»Bist der große Boxstar jetzt, was?«, sagte sein Vater plötzlich. »Hab deinen Kampf am Wochenende gesehen.«
Lag da Hohn und Spott in seiner Stimme, oder war auch das nur Einbildung?
Max spürte, wie sich etwas in ihm verkrampfte. Er
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