Blinder Passagier
verrührte dann zwei weitere Löffel Zucker darin.
»Mir war von Anfang an klar, dass sie das nicht wirklich interessierte«, fuhr er fort. »Ich wusste, sie wollte auf irgendetwas anderes hinaus. Sie ist nicht zuständig für die ermittelnden Beamten, weswegen also fragt sie mich darüber aus?«
Ich schenkte mir ein Glas Wein ein. »Was wollte sie dann?«, fragte ich.
»Sie wollte über dich reden. Sie fing an, mir tausend Fragen über dich zu stellen, sie sagte, sie wüsste, dass wir seit langem zusammenarbeiten.«
Ich sah nach dem Teig, dann nach der Sauce.
»Sie fragte mich Hintergrundzeugs. Was die Bullen von dir halten.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich sagte, du bist Ärztin, Anwältin und Indianerhäuptling mit einem IQ, der größer ist als die Zahlen auf meiner Gehaltsabrechnung, dass alle Bullen in dich verliebt sind, auch die Frauen. Lass mich nachdenken, was noch?« »Das hat wahrscheinlich schon gereicht.« »Sie fragte nach Benton und was mit ihm passiert ist und wie sehr es deine Arbeit beeinträchtigt.« Wut wallte in mir auf.
»Dann hat sie mich nach Lucy gefragt. Warum sie vom FBI weg ist und ob ihre sexuellen Präferenzen etwas damit zu tun hätten.«
»Was mich angeht, ist das Schicksal dieser Frau demnächst besiegelt.«
»Ich habe gesagt, dass Lucy vom FBI weg ist, weil die NASA sie gebeten hat, Astronautin zu werden«, fuhr Marino fort. »Aber als man sie ins Raumfahrtprogramm aufnahm, hätte sie beschlossen, dass sie lieber mit Hubschraubern fliegt, und dann sei sie als Pilotin zum ATF. Bray wollte, dass ich ihr Bescheid sage, wenn Lucy das nächste Mal in der Stadt ist, damit sie sich mit ihr treffen kann, denn vielleicht will Bray sie einstellen. Ich sagte, das wäre ungefähr so, als würde man Billie Jean King bitten, Tennisbälle aufzusammeln. Ende der Geschichte? Ich habe Bray keine Scheiße erzählt, außer dass ich nicht dein Sozialberater bin. Eine Woche später steckte ich wieder in Uniform.«
Ich griff nach meiner Zigarettenschachtel und kam mir vor wie ein Junkie. Wir saßen gemeinsam vor dem Aschenbecher, rauchten in meinem Haus, schweigend und frustriert. Ich versuchte, meine Hassgefühle zu unterdrücken.
»Ich glaube, dass sie schlicht und einfach wahnsinnig eifersüchtig auf dich ist, Doc«, sagte Marino schließlich. »Sie ist die karrieregeile Aufsteigerin, die aus Washington D.C. hierher versetzt wird, und hier redet man nur über die große Dr. Scarpetta.
Und ich glaube, dass es ihr ein billiges Vergnügen bereiten würde, wenn wir beide uns verkrachen. Das würde ihr Machtgefühl steigern.«
Er warf seine Kippe in den Aschenbecher und drückte die Glut aus.
»Dieser Fall ist der erste, den wir nicht zusammen bearbeiten, seit du hier bist«, sagte er, als es zum zweiten Mal an diesem Abend klingelte.
»Wer zum Teufel ist das?«, sagte er. »Du hast noch jemand eingeladen, und mir nichts davon erzählt?«
Ich stand auf und blickte auf den Videoschirm an der Küchenwand. Ich starrte ungläubig auf das Bild, das die Kamera an der Haustür aufnahm.
»Ich glaub, ich träume«, sagte ich.
7
Lucy and Jo wirkten wie Erscheinungen, physische Präsenzen, die nicht aus Fleisch und Blut sein konnten. Beide waren vor noch nicht einmal acht Stunden durch die Straßen Miamis gefahren. Und jetzt hielt ich sie in den Armen.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte ich mindesten fünf Mal, während sie ihre Taschen auf den Boden fallen ließen.
»Was zum Teufel ist hier los?«, brüllte Marino, der uns im großen Zimmer abfing. »Was willst du denn hier?«, brüllte er Lucy an, als hätte sie etwas falsch gemacht.
Er hatte Zuneigung noch nie auf normale Art und Weise ausdrücken können. Je ruppiger und sarkastischer er wurde, desto mehr freute er sich, meine Nichte wiederzusehen.
»Haben sie dich dort unten schon wieder gefeuert?«, fragte er.
»Und was ist das, deine neue Freizeitkleidung?«, fragte Lucy ebenso laut und zupfte am Ärmel seines Uniformhemds. »Willst du uns endlich glauben machen, dass du ein richtiger Bulle bist?«
»Marino«, sagte ich, als wir in die Küche gingen, »ich glaube nicht, dass du Jo Sanders kennst.« »Nee«, sagte er. »Ich habe dir von ihr erzählt.«
Er sah Jo ausdruckslos an. Sie war eine athletisch gebaute, rotblonde junge Frau mit dunkelblauen Augen, und es war unübersehbar, dass er sie hübsch fand.
»Er weiß genau, wer du bist«, sagte ich zu Jo. »Er ist nicht unhöflich. Er ist nur er selbst.«
»Du
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