Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Raum«, sagte Marino wie ein Polizist, der versucht, ein Zimmer voller Verdächtiger in Schach zu halten. »Das betrifft uns alle. Verdammt noch mal.«
    Er stand vom Tisch auf und rieb sich das Gesicht mit den Händen.
    »Irgendwie wünschte ich, er hätte das nicht getan.« Er sah mich an. »Würdest du mir so etwas antun, Doc? Denn wenn du dich mit dem Gedanken trägst, rate ich dir gleich, es zu vergessen.
    Ich will keine Worte aus dem Grab, nachdem du gestorben bist.«
    »Lass uns die Pizza auf den Grill legen«, sagte ich.
    Wir gingen hinaus, und ich walkte den Teig auf Backpapier und legte ihn dann auf den Grill. Ich goss die Sauce darüber, tat das Fleisch, das Gemüse und den Käse darauf. Lucy, Jo und Marino saßen auf eisernen Schaukelstühlen, weil ich mir von ihnen nicht helfen lassen wollte. Sie versuchten, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber es gelang ihnen nicht. Ich tröpfelte Olivenöl auf die Pizza, darauf bedacht, die Kohlen nicht auflodern zu lassen.
    »Ich glaube nicht, dass er euch zusammengeführt hat, damit ihr gemeinsam Trübsal blast«, sagte Jo schließlich.
    »Ich blase nicht Trübsal«, sagte Marino.
    »Doch, das tust du«, konterte Lucy.
    »Und weswegen, wenn ich fragen darf?«
    »Wegen allem.«
    »Zumindest habe ich keine Angst davor zu sagen, dass ich ihn vermisse.«
    Lucy starrte ihn ungläubig an. Das war erst der Anfang ihres Wortgefechts.
    »Ich kann nicht glauben, was du gerade gesagt hast«, sagte sie zu ihm.
    »Glaub's ruhig. Er war der einzige verdammte Vater, den du je gehabt hast, und von dir hab ich noch nie gehört, dass du ihn vermisst. Warum? Weil du immer noch glaubst, dass du schuld bist, stimmt's?«
    »Was ist los mit dir?«
    »Raten Sie mal, Agentin Lucy Farinelli.« Marino wollte nicht aufhören. »Du bist nicht schuld. Die verdammte Carrie Grethen ist schuld, und egal, wie oft du die Schlampe vom Himmel schießt, für dich wird sie nie tot genug sein. So ist es, wenn man jemand zu sehr hasst.«
    »Und du hasst sie nicht?«, entgegnete Lucy.
    »Scheiße.« Marino trank sein Bier aus. »Ich hasse sie mehr als du.«
    »Benton hat bestimmt nicht gewollt, dass wir hier herumsitzen und darüber reden, wie sehr wir sie oder jemand anders hassen«, sagte ich.
    »Und wie werden Sie damit fertig, Dr. Scarpetta?«, fragte mich Jo.
    »Ich wünschte, du würdest mich Kay nennen.« Das hatte ich ihr schon oft angeboten. »Ich mache weiter. Mehr kann ich nicht tun.«
    Die Worte klangen banal, auch in meinen Ohren. Jo beugte sich zum Grill und sah mich an, als wüsste ich die Antwort auf alle Fragen, die sie in ihrem Leben je gestellt hatte.
    »Wie können Sie weitermachen?«, fragte sie. »Wie machen Leute weiter? Alle diese Gräuel, mit denen wir Tag für Tag zu tun haben, aber wir stehen auf der anderen Seite. Uns passiert nichts. Nachdem wir die Tür hinter uns geschlossen haben, müssen wir nicht mehr auf die Stelle auf dem Fußboden starren, wo jemandes Frau vergewaltigt und erstochen oder einem Familienvater das Gehirn aus dem Kopf geblasen wurde. Wir wollen glauben, dass wir Fälle bearbeiten, aber nie zu einem Fall werden. Aber Sie wissen es besser.«
    Sie hielt inne, noch immer vorgebeugt, und die Schatten des Feuers huschten über ihr Gesicht, das viel zu jung und unschuldig war für jemanden, der über solche Fragen nachdachte.
    »Wie können Sie weitermachen?«, fragte sie wieder.
    »Der menschliche Geist ist sehr anpassungsfähig.« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
    »Ich denke immer darüber nach, was ich tun würde, sollte Lucy was passieren«, sagte Jo.
    »Mir wird nichts passieren«, sagte Lucy.
    Sie stand auf und küsste Jo aufs Haar. Dann nahm sie sie in die Arme, und wenn dieses eindeutige Verhalten Marino über die Natur ihrer Beziehung ins Bild setzte, zeigte er es nicht oder es war ihm gleichgültig. Er kannte Lucy seit ihrem zehnten Lebensjahr, und in gewisser Weise hatte sein Einfluss eine Menge damit zu tun, dass sie immer schon zur Polizei gewollt hatte. Er hatte ihr das Schießen beigebracht. Er hatte sie mit auf Patrouille genommen und sie sogar ans Lenkrad eines seines heiligen Pickups gelassen.
    Als ihm klar wurde, dass sie sich nicht in Männer verliebte, führte er sich auf wie ein Moralapostel, wahrscheinlich weil er fürchtete, dass sein Einfluss in einem Bereich versagt hatte, wo es seiner Meinung nach am meisten zählte. Vielleicht fragte er sich sogar, ob er irgendwie schuld daran war. Das lag viele Jahre zurück. Ich

Weitere Kostenlose Bücher