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Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Arbeit bestand darin, dass nicht identifizierte Leichen zum »Torso« wurden oder zur »Rumpf-Dame« oder zum »Superuran-Mann«. Es waren Bezeichnungen, die der Person jegliche Identität, alles, was sie im Leben gewesen waren und getan hatten, ebenso raubten wie der Tod.
    Ich betrachtete es als eine schmerzhafte persönliche Niederlage, wenn ich jemanden, der in meine Obhut kam, nicht identifizieren konnte. Ich verschloss Knochen in Geldkassetten und lagerte sie im Skelettschrank in der Hoffnung, dass sie mir eines Tages erzählen würden, wer sie gewesen waren. Ich bewahrte ganze Leichen oder Leichenteile monate-, manchmal jahrelang in Gefrierschränken und gab sie erst für ein Armen-grab frei, wenn es keine Hoffnung oder keinen Platz mehr gab. Wir hatten nicht genügend Räume, um sie für immer zu behalten.
    Der Fall, der mir an diesem Morgen bevorstand, war »Der Container-Mann« getauft worden. Er befand sich in einem erbärmlichen Zustand, und ich hoffte, ich hätte ihn nicht allzu lange hier. Wenn die Verwesung so weit fortgeschritten ist, dann kann auch kühle Lagerung sie nicht mehr stoppen.
    »Manchmal versteh ich nicht, wie du das aushältst«, grum-melte Marino.
    Wir befanden uns in dem Umkleideraum neben dem Autopsie-Saal, und keine noch so dicht schließende Tür und keine Betonwand konnte verhindern, dass der Geruch durchsickerte.
    »Du musst nicht dabei sein«, erinnerte ich ihn.
    »Um keinen Preis möchte ich das hier versäumen.«
    Wir schlüpften in doppelte OP-Anzüge, Handschuhe, Ärmelschoner, Überschuhe, OP-Mützen und Masken mit Schild. Wir trugen keine Sauerstoffgeräte, weil ich nicht daran glaubte, und meine Ärzte taten gut daran, sich von mir nicht mit Vicks-Stöpseln in der Nase ertappen zu lassen, obwohl die Polizisten sie ständig benutzten. Wenn ein Pathologe mit den hässlichen Seiten unseres Jobs nicht umgehen kann, sollte er sich nach einem anderen umsehen.
    Aber abgesehen davon sind Gerüche wichtig. Sie erzählen ihre eigene Geschichte. Ein süßlicher Geruch kann auf Äthchlorvynol verweisen, während Chloralhydrat nach Birne riecht. Beide könnten den Verdacht auf eine Überdosis Schlafmittel nahe legen, während eine Spur Knoblauch auf Arsen schließen lassen könnte.
    Phenol und Nitrobenzol erinnern an Äther beziehungsweise Schuhcreme, Äthylenglycol riecht wie Frostschutzmittel, denn genau das ist es auch. Potenziell bedeutsame Gerüche aus dem schrecklichen Gestank schmutziger Körper und verwesenden Fleisches herauszukristallisieren ist wie eine archäologische Grabung. Man konzentriert sich auf das, was man finden will, und nicht auf die miserablen Bedingungen im Umfeld.
    Der Verwesten-Raum, wie wir ihn nannten, war eine kleinere Version des Autopsiesaales. Er war mit einem eigenen Küh-lungs- und Lüftungssystem ausgestattet. Es befand sich nur ein Seziertisch darin, der zu einem großen Becken gerollt und dort angeschlossen werden konnte. Alles, auch die Schränke und Türen, war aus rostfreiem Stahl. Die Wände und der Boden waren mit einem nicht absorbierenden Acrylbelag überzogen, der auch den schärfsten Desinfektions- und Bleichmitteln widerstand. Die automatischen Türen ließen sich mit Stahlknöpfen öffnen, die groß genug waren, um mit dem Ellbogen statt mit der Hand darauf zu drücken.
    Als sich die Türen hinter Marino und mir schlossen, war ich höchst erstaunt, Anderson gegen einen Schrank gelehnt vorzufinden; die Bahre mit dem Leichensack stand mitten im Raum.
    Eine Leiche ist Beweismaterial. Ich ließ nie einen ermittelnden Beamten allein mit einer noch nicht untersuchten Leiche, erst recht nicht seit dem übel in die Hose gegangenen Prozess gegen O.J. Simpson, nach dem es Mode geworden war, vor Gericht alle außer dem eigentlichen Angeklagten anzuklagen.
    »Was tun Sie hier, und wo ist Chuck?«, fragte ich Anderson.
    Chuck Ruffin führte die Aufsicht in der Leichenhalle und sollte schon seit einiger Zeit hier sein, chirurgische Instrumente kontrollieren, Reagenzgläser mit Etiketten versehen und sich vergewissern, dass alle nötigen Unterlagen da waren.
    »Er hat mich reingelassen und ist dann wieder gegangen.«
    »Er hat Sie reingelassen und ist wieder gegangen? Wann war das?«
    »Vor ungefähr zwanzig Minuten«, sagte Anderson. Sie beäugte Marino misstrauisch.
    »Sehe ich da kleine Stöpsel in Ihrer Nase?«, erkundigte sich Marino mit honigsüßer Stimme.
    Auf Andersons Oberlippe glänzte Vaseline.
    »Sehen Sie das industriegroße Deodorant

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