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Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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wachsen schien und ihm ein zerzaustes verschlafenes Aussehen verlieh, das Frauen unwiderstehlich zu finden schienen. Mich konnte er nicht um den Finger wickeln, und er versuchte es auch nicht mehr.
    »Wann genau ist Detective Anderson heute Morgen aufgetaucht?«, fragte ich ihn.
    Als Antwort ging er herum und schaltete Lichtkästen ein. Sie glühten leer an der oberen Hälfte der Wände.
    »Tut mir Leid, dass ich zu spät dran bin. Ich musste telefonieren.
    Meine Frau ist krank«, sagte er.
    Er hatte seine Frau so oft als Entschuldigung angeführt, dass sie entweder chronisch krank oder ein Hypochonder sein musste, am Münchhausen-Sydrom litt oder halb tot war.
    »Rene wollte wohl nicht bleiben -«, sagte er und bezog sich dabei auf Anderson.
    »Rene?«, unterbrach ihn Marino. »Wusste gar nicht, dass ihr beide euch so gut kennt.«
    Ruffin nahm die Aufnahmen aus den großen Umschlägen.
    »Chuck, wann ist Anderson hier aufgekreuzt?«, versuchte ich es ein weiteres Mal.
    »Um wie viel Uhr?« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich denke mal, das wird so um viertel nach gewesen sein.«
    »Viertel nach acht«, sagte ich.
    »Ja.«
    »Und Sie haben sie ins Leichenschauhaus gelassen, obwohl Sie wussten, dass alle in der Personalbesprechung waren?«, sagte ich, als er die Aufnahmen an die Lichtkästen hängte. »Obwohl Sie wussten, dass niemand im Leichenschauhaus ist? Wo überall Akten, persönliche Dinge und Leichen herumliegen.«
    »Sie war noch nie hier gewesen, deshalb habe ich sie schnell herumgeführt. Außerdem war ich da. Bin mit dem Pillenzählen im Rückstand.«
    Er sprach von dem endlosen Vorrat an verschreibungspflich-tigen Medikamenten, die mit den meisten Fällen zu uns kamen.
    Ruffin oblag die öde Aufgabe, Pillen zu zählen und sie im Waschbecken hinunterzuspülen.
    »Wow, schauen Sie sich das an«, sagte er.
    Röntgenaufnahmen des Schädels aus verschiedenen Winkeln zeigten Metallklammern in der linken Kieferhälfte. Sie waren so deutlich sichtbar wie die Nähte in einem Baseball.
    »Der Container-Mann hat einen kaputten Kiefer«, sagte Ruffin.
    »Das müsste doch ausreichen, um ihn zu identifizieren, oder, Dr. Scarpetta?«
    »Wenn wir alte Aufnahmen von ihm auftreiben«, sagte ich.
    »Ja, das ist immer die große Frage«, sagte Ruffin. Er tat alles, um mich abzulenken, weil er wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte.
    Ich betrachtete die opaken Schatten und Formen von Nebenhöhlen und Backenknochen, fand jedoch keine weiteren Brüche, Missbildungen oder Auffälligkeiten. Als ich mir die Zähne ansah, entdeckte ich einen zusätzlichen Höcker auf einem Mahlzahn, einen Carabelli. Alle Mahlzähne haben vier Höcker.
    Dieser hatte fünf.
    »Was ist ein Carabelli?«, wollte Marino wissen.
    »Das war ein Mann. Keine Ahnung wer.« Ich deutete auf den betreffenden Zahn. »Oberkiefer. Lingual und mesial oder auf der Zungenseite vorn.«
    »Das ist vermutlich gut«, sagte Marino. »Nicht dass ich die leiseste Ahnung hätte, wovon du sprichst.«
    »Ein ungewöhnliches Merkmal«, sagte ich. »Ganz zu schweigen von seiner Sinuskonfiguration und dem gebrochenen Kiefer.
    Wir haben genug, um ihn ein halbes dutzend Mal zu identifizieren, wenn wir prämortale Aufnahmen auftreiben, mit denen wir unsere Bilder vergleichen können.«
    »Das behaupten wir immer, Doc«, erinnerte mich Marino. »Du hattest hier schon Leute liegen mit Glasaugen, Beinprothesen, Metallplatten im Schädel, Siegelringen an den Fingern, Zahnspangen, was immer, und trotzdem haben wir nicht herausgefunden, wer sie waren, weil sie nie als vermisst gemeldet wurden. Oder wenn doch, gingen ihre Akten im Weltraum verloren.
    Oder wir haben keine verdammten Röntgenbilder oder Krankenakten auftreiben können.«
    »Zahnbehandlungen hier und dort«, sagte ich und deutete auf mehrere Metallfüllungen, die leuchtend weiß aus zwei grauen Mahlzähnen hervorstachen. »Sieht aus, als wären seine Zähne gut versorgt worden. Die Fingernägel sind ordentlich geschnitten. Legen wir ihn auf den Tisch. Wir müssen anfangen. Sein Zustand wird nicht besser.«

12
    Die Augen traten hervor wie bei einem Frosch, die Kopfhaut und der Bart lösten sich mit der äußeren Schicht dunkel werdender Haut ab. Der Kopf hing schlaff herab, und der letzte Rest Flüssigkeit, den er noch in sich hatte, sickerte heraus, als ich ihn um die Knie fasste und Ruffin ihn unter den Achselhöhlen packte. Wir mühten uns, ihn auf den fahrbaren Tisch zu wuchten, während Marino die Bahre

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