Blinder Passagier
dort oben?« Marino machte eine Kopfbewegung in Richtung des Belüftungssystems in der Decke. »Und wissen Sie was, Anderson? Das wird einen Scheißdreck nützen, wenn der Sack da geöffnet wird.«
»Ich habe nicht vor zu bleiben«, erwiderte sie.
Das war offensichtlich. Sie trug nicht einmal Handschuhe.
»Ohne Schutzkleidung sollten Sie überhaupt nicht hier sein«, sagte ich zu ihr.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich unterwegs bin, um Zeugen zu befragen, und ich möchte, dass Sie mich anrufen, wenn Sie wissen, was mit ihm passiert ist«, sagte sie.
»Was für Zeugen? Schickt Bray Sie nach Belgien?«, fragte Marino, sein Atem beschlug sein Gesichtsschild.
Ich glaubte keinen Augenblick lang, dass sie an diesen unfreundlichen Ort gekommen war, um mir irgendetwas mitzuteilen. Anderson war aus einem anderen Grund hier. Ich betrachtete den dunkelroten Leichensack, um festzustellen, ob daran herumhantiert worden war, während die Paranoia ihre kühlen Finger in meinem Gehirn ausstreckte. Ich blickte auf die Uhr an der Wand. Es war fast neun.
»Rufen Sie mich an«, sagte Anderson, als wäre es ein Befehl.
Die Türen schlossen sich hinter ihr. Ich griff zum Telefonhörer und wählte Rose an.
»Wo zum Teufel ist Chuck?«, fragte ich.
»Das weiß nur der liebe Gott«, sagte Rose und gab sich keine Mühe, die Verachtung, die sie für den jungen Mann empfand, zu verbergen.
»Bitte suchen Sie ihn und richten Sie ihm aus, dass er auf der Stelle hier zu sein hat«, sagte ich. »Er treibt mich in den Wahnsinn. Und machen Sie wie gewöhnlich eine Aktennotiz zu diesem Anruf. Dokumentieren Sie alles.«
»Das tue ich immer.«
»Ich werde ihn demnächst entlassen«, sagte ich zu Marino, nachdem ich aufgelegt hatte. »Sobald ich genug gegen ihn in der Hand habe. Er ist faul, verhält sich völlig unverantwortlich, und das war früher anders.«
»Er ist fauler und verhält sich noch unverantwortlicher als früher«, sagte Marino. »Der Junge tickt nicht mehr ganz richtig, Doc. Er hat was vor, und nur damit dus weißt, er will zur Polizei.«
»Gut«, sagte ich. »Ihr könnt ihn mit Handkuss haben.«
»Einer dieser Möchtegerns, die ganz geil werden, wenn sie eine Uniform, Waffen und Blaulicht sehen«, sagte er, als ich den Leichensack öffnete.
Marinos Stimme wurde kleinlaut. Er tat sein Bestes, um stoisch zu wirken.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ja.«
Der Gestank traf uns wie eine Sturmfront. »Scheiße!«, rief er, als ich die Leiche aus den Tüchern wik-kelte.
»Dieser gottverdammte Hurensohn!«
Manchmal war eine Leiche in einem so entsetzlichen Zustand, dass sie zu einem surrealen Miasma unnatürlicher Farben, Texturen und Gerüche wurde, das einen desorientieren und ohnmächtig werden lassen konnte. Marino zog sich so weit wie möglich von der Bahre zurück, und beinahe hätte ich gelacht.
In der OP-Kleidung sah er einfach lächerlich aus. Wenn er Überschuhe trug, neigte er dazu, auf dem Boden zu rutschen, und weil die Mütze auf seinem kahl werdenden Kopf keinen Halt fand, saß sie oben drauf wie eine Napfkuchenform. Ich gab ihm noch eine Viertelstunde, dann würde er sie sich wie immer herunterreißen.
»Er kann nichts für seinen Zustand«, erinnerte ich Marino.
Er steckte sich Vicks-Stöpsel in die Nase.
»Das ist jetzt aber ein bisschen scheinheilig«, sagte ich gerade, als die Tür aufglitt und Chuck Ruffin mit Röntgenbil-dern hereinkam.
»Es ist unangebracht, jemanden hier hereinzulassen und dann zu verschwinden«, sagte ich zu Ruffin mit weit größerer Zurückhaltung, als ich sie tatsächlich empfand. »Vor allem wenn es sich um eine Anfängerin handelt.«
»Ich wusste nicht, dass sie eine Anfängerin ist«, erwiderte Ruffin.
»Was haben Sie denn geglaubt?«, sagte Marino. »Sie war noch nie hier und sieht aus wie dreizehn.«
»Richtig, sie hat 'ne Hühnerbrust. Nicht so wie ich's mag, das kann ich Ihnen sagen«, meinte Ruffin großspurig. »LesbenAlarm! Tatü-tata, tatü-tata!« Er imitierte eine Sirene und fuchtelte mit den Händen herum.
»Unbefugte dürfen mit nicht-untersuchten Leichen nicht allein gelassen werden. Dazu gehören auch Polizisten. Ob erfahren oder nicht.« Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle gekündigt.
»Ich weiß.« Er versuchte es auf die witzige Art. »Wieder mal O.J. und der untergeschobene Lederhandschuh.«
Ruffin war ein großer, schlanker junger Mann mit braunen Schlafzimmeraugen und wildem blondem Haar, das in allen möglichen Richtungen zu
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