Blinder Passagier
Blicke landeten auf der mit einem Handtuch bedeckten chirurgischen Schale und der mit Papiertüchern bedeckten Bahre, die ich schob. Sie arbeiteten lange genug hier, um zu wissen, dass sie nichts mit den zugedeckten Dingen zu tun haben wollten.
»Na ja«, sagte Merle.
»Das kommt hin«, stimmte Beatrice ihr zu.
Ich drückte auf den Knopf für den Aufzug.
»Fahren Sie an Weihnachten weg, Dr. Scarpetta?«
Mein Gesichtsausdruck verriet ihnen, dass Weihnachten nicht unbedingt ein Thema war, über das ich gern sprechen wollte.
»Wahrscheinlich haben Sie gar keine Zeit für Weihnachten«, sagte Merle rasch.
Die beiden Frauen fühlten sich ebenso unwohl wie alle anderen, wenn sie daran erinnert wurden, was mit Benton geschehen war.
»Um diese Jahreszeit ist immer unheimlich viel los«, wechselte Beatrice ungeschickt das Thema. »Die Leute trinken auf der Straße. Die Selbstmordrate steigt, und die Leute geraten sich öfter in die Haare.«
In gut zwei Wochen wäre Weihnachten. Fielding war dieses Jahr zum Notdienst eingeteilt. Ich konnte nicht mehr sagen, wie oft ich an Weihnachten einen Pager dabei gehabt hatte.
»Und viele Leute sterben bei Bränden.«
»Wenn um diese Zeit des Jahres Schlimmes passiert«, sagte ich zu ihnen, als sich die Aufzugstüren öffneten, »dann geht mir das besonders nahe. Viel hat es damit zu tun.«
»Vielleicht ist es das.«
»Ich weiß nicht, erinnerst du dich noch an den Kabelbrand?«
Die Türen schlossen sich, und ich fuhr hinauf in den zweiten Stock, der für Rundgänge von Politikern und allen anderen, die sich für unsere Arbeit interessierten, angelegt war. Alle Labors befanden sich hinter riesigen Glasscheiben. Das war den Wissenschaftlern, die es gewohnt waren, allein hinter dicken Mauern zu arbeiten, zuerst fremd und unangenehm gewesen. Mittlerweile machte es ihnen nichts mehr aus. Sie testeten Abzüge von Waffen, analysierten Blutflecken, Fingerabdrücke und Fasern, ohne darauf zu achten, was auf der anderen Seite des Glases vor sich ging, wo ich im Augenblick meine Bahre vorbeischob.
Neils Vanders Reich war ein großer Raum mit vielen Abstellflächen, auf denen alle möglichen ungewöhnlichen technischen Instrumente und behelfsmäßigen selbst gebastelten Konstruktionen standen. An einer Wand befand sich ein Holzschrank mit Glastüren, und den hatte Vander in Kammern unterteilt, in denen er mit Wäscheleinen und -klammern Objekte aufhing und sie den Dämpfen von Super Glue aussetzte, die von einer heißen Platte verströmt wurden.
In der Vergangenheit war es Wissenschaftlern und Polizei selten gelungen, von nicht-porösen Objekten wie Plastiktüten, elektrischen Kabeln oder Leder Fingerabdrücke zu nehmen. Dann entdeckte man rein zufällig, dass sich die Dämpfe von Super Glue ähnlich dem traditionell verwendeten Pulver an Erhöhungen niederschlagen, so dass ein latenter Abdruck auf einmal weiß sichtbar wurde. In einer Ecke stand eine weitere Kleber-Kammer, genannt Cyvac II, die größere Objekte wie Gewehre oder Flinten, Autostoßstangen und theoretisch sogar eine ganze Leiche aufnehmen konnte.
Feuchtigkeitskammern ließen Fingerabdrücke auf porösen Gegenständen wie Papier oder Holz sichtbar werden, die zuvor mit Ninhydrin behandelt worden waren, wiewohl Vander bisweilen auf eine schnellere Methode zurückgriff und ein gewöhnliches Dampfbügeleisen benutzte. Ein-, zweimal hatte er dabei angeblich Beweisstücke verbrannt. Außerdem standen Nederman-Lampen herum, die mit einer Vakuumkammer ausgestattet waren, um Dämpfe und Rückstände von Drogen abzusaugen.
Weitere Räume in Vanders Reich beherbergten das Automatische Fingerabdruck-Identifizierungssystem oder AFIS und Dunkelkammern für digitale Audio- und Videovergrößerungen.
Ihm unterstand das Fotolabor, wo jeden Tag über einhundertfünfzig Filmrollen entwickelt wurden. Ich brauchte ein Weile, um Vander zu finden. Ich machte ihn schließlich in einem Labor ausfindig, wo in einer Ecke ordentlich aufgestapelt Pizzakartons standen, die findigen Polizisten zum Transport von Autoreifen und Schuhen dienten. Eine Tür, die jemand einzutreten versucht hatte, lehnte an der Wand.
Vander saß vor einem Computer mit geteiltem Bildschirm und verglich Schuhabdrücke. Ich ließ die Bahre vor der Tür stehen.
»Nett von Ihnen, dass Sie mir aushelfen«, sagte ich.
Seine blassblauen Augen schienen ständig in Bewegung, und wie gewöhnlich war sein Kittel voller lila Ninhydrinflecken, und ein Filzstift ohne Kappe hatte
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