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Blindes Grauen

Blindes Grauen

Titel: Blindes Grauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Abercrombie
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Meredith ihn vielleicht nicht bemerken. Der Schlüssel lag darin, dass Gooch nah genug rankam. Dreißig Meter waren zu weit für einen anständigen Schuss.
    Die MP5 schob sich um den Baumstamm, feuerte blindlings, vielleicht acht oder zehn Schuss. Gooch konnte sie um sich herum durch den Wind sausen hören. Im Hinterkopf befahl ihm eine kleine Stimme, davonzulaufen.
    Aber er ignorierte sie. Geh einfach weiter. So still und ruhig wie möglich.
    Er konnte ein Klicken von Meredith’ Waffe hören. Er lud nach. Meredith hatte seine Magazine professionell vorbereitet: zwei waren aneinandergeklebt, sodass er sie nur umdrehen musste, um nachzuladen. In erfahrenen Händen dauerte das vielleicht eine Sekunde.
    Gooch stellte sich Meredith hinter dem Baustamm vor und versuchte zu überlegen, was er gerade tat. Meredith würde nachladen, einmal Atem holen, dann blindlings eine Salve abgeben, und schließlich hinter dem Stamm hervorkommen und angreifen.
    Dann – wenn er nicht vorher von der Salve getroffen würde – blieb Gooch ein Schuss.
    Leben oder sterben.
    Er blieb stehen. Ging in Position. Zielte sorgfältig. Es waren knapp zwanzig Meter. Er musste davon ausgehen, dass Meredith eine schusssichere Weste trug. Also musste er seinen Kopf treffen. Zwanzig Meter auf ein bewegtes Ziel von der Größe einer Suppenschüssel. Gooch war ein guter Schütze. Das war machbar.
    Meredith würde auf der rechten Seite hinter dem Baum hervorkommen. Das war die bessere Möglichkeit: Man rollt auf der linken Schulter drumherum und kommt bereits schießend hervor. So flogen die ersten Kugeln schon, bevor man seinen Körper zeigte.
    Es sei denn, Meredith war richtig klug. Es sei denn, er hatte Gooch kommen gehört und ahnte, was der vorhatte. Dass Gooch sich darauf vorbereitete, auf die rechte Seite des Baumes zu zielen. Dann kam er vielleicht auf der anderen raus, um ihn zu überraschen.
    Wie würde es laufen?
    Einen Augenblick lang stand Gooch einfach nur da. Die Pistole erhoben. Korn und Kimme auf den Baum gerichtet.
    Zwanzig Meter. Er hatte eine Million solcher Schüsse auf dem Schießstand abgegeben. Aber er hatte auch oft genug daneben geschossen. Und wenn man auf dem Schießstand war, schoss das Ziel nicht zurück, und die Hände zitterten nicht, man atmete nicht schwer, man hatte keine Todesangst.
    Bloß … fühlte sich Gooch im Moment auch nicht so.
    Seine Hände waren ruhig. Sein Geist war klar. Die Welt schien sich von seinem eigenen Körper aus zu erstrecken, wie eine riesige Kristallskulptur – alles war strahlend und klar. Das Grün der Bäume, die Spitzen der Grashalme, die sich der hellen Sonne entgegenreckten, die aufgeblasenen weißen Wolken, die über den Himmel zogen, die perfekte Kurve der Straße – all das erschien ihm außerordentlich schön und ruhig, so schön, so hoffnungsvoll, so beruhigend, genau genommen so, dass er sich fragte: Wieso habe ich das nie gewusst? Wieso habe ich das nie gesehen?
    Und dann reckte sich die MP5 um die rechte Seite des Baumstammes, und die Luft war voller Kugeln. Meredith zeigte sich noch nicht, er versuchte nur, Gooch in Deckung zu treiben. Die Welt schien einen Augenblick still zu stehen, und Gooch konnte sehen, wie sich der Lauf bewegte, bis er schließlich direkt hineinschauen konnte in das perfekte schwarze O.
    In diesem Augenblick wusste er, dass er einen Treffer abbekommen würde.
    Die Kugel erwischte ihn in den Rippen. Es war das Schmerzhafteste, was er je gefühlt hatte. Nicht nur ein entsetzlicher Schock, sondern unendlich viele Nadelstiche auf der gesamten rechten Seite seiner Brust.
    Seine rechte Hand sackte herunter, er konnte sie nicht mehr länger kontrollieren, die Pistole verschwand aus seinem Blickfeld wie ein Wagen, der über ein Kliff flog.
    Er griff mit der linken Hand nach der Waffe, erwischte sie, packte sie, hob sie wieder hoch.
    Und genau in diesem Augenblick sah er Meredith auf sich zukommen. Dieser gerissene Hund! Du wunderschöner gerissener Hund! Er hatte rechtsherum geschossen, aber jetzt kam er um die linke Seite des Baumes! Irgendetwas daran machte Gooch ganz glücklich.
    Er hob die linke Hand, richtete sie auf den dunklen Umriss, der um den Baum herumkam.
    Und da war Meredith’ Gesicht. Gooch sah es zum ersten Mal. Er sah ganz normal aus, ordentlich gekämmtes Haar, weiche Züge, eine Brille mit runden Gläsern, wie John Lennon sie getragen hatte. Wenn man ihn auf der Straße sah, würde man denken: Uni-Professor, Musiker, Wissenschaftler.
    Meredith

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