Blindes Grauen
deine Rippen, oder?«, fragte sie. »Ich glaube, ich habe Knochen gespürt. Das sollte sich jemand ansehen. Das wird sich ziemlich bald entzünden, das kann ich dir garantieren.«
Sie kreuzte die Füße und versuchte, entspannt und ruhig zu wirken. »Puh! Das war ja ein hübsches kleines Kämpfchen, das wir gewagt haben, Bruder. Stört dich doch nicht, wenn ich dich so nenne? Bruder? Ich meine nicht ›Bruder‹ im Sinne der Black-Power-Bewegung. Aber irgendwie muss ich dich ja nennen, nicht wahr? Ich meine, ich kann dich nicht sehen, aber ich stelle mir einen Weißen vor. Ist das nun Rassismus oder ein Stereotyp oder so? Jedenfalls sehe ich keinen Schwarzen vor mir. Alle meine Verbrecher sind Weiße. Komisch, oder? Ich wette, achtzig, fünfundachtzig Prozent der Leute, die ich als Polizistin verhaftet habe, waren schwarz. Und doch, wenn ich mir den abartigsten, kranksten Killer vorstelle, den ich zusammenbekomme, hey, das muss ein Weißer sein. Bin ich jetzt eine Rassistin?«
Sie atmete langsam ein, sie versuchte, ein Gefühl für diesen Typen zu kriegen. Was zum Teufel wollte er? Wenn es irgendein irrer Sexmörder war, würde er dann nicht irgendetwas anderes tun, außer sie anzustarren? Würde er nicht reden? Sie foltern? Irgendetwas an der Sache begriff sie nicht.
»Ich wünschte, du würdest etwas sagen«, erklärte sie. »Nicht, weil es mir etwas bedeutet. Ich bin bloß neugierig, verstehst du? Was hat dich hierher getrieben? Gestern noch warst du Hundefänger oder Mitarbeiter beim Notar, heute stehst du mit einem Elektroschockgerät in der Hand in einem schalldichten Raum. Wie passiert so etwas?« Sie lächelte. »Ich würde ja gern sagen, es lag an deiner üblen Kindheit oder so, Daddy hat dich ans Bett gefesselt, Onkel Joe hat dich im Keller vergewaltigt, während Mami oben die Wäsche macht, was weiß ich. Aber: Nein, das ist zu einfach. Die meisten von diesen kleinen Wichsern, die ich festgenommen habe, hatten ziemlich üble Kindheiten. Die dealen Crack, legen alte Damen rein, klauen Fernseher, klar.«
Sie lachte und hoffte, dass es möglichst hochnäsig klang. »Aber in einem Zimmer zu stehen, mit einem Elektroschock-gerät, und die Frau hat die Augen zugeklebt? Nee. Das ist eine ganz andere Geschichte. Voll krasse Nummer. Weißt du, was ich mir vorstelle? Willst du meine Theorie hören?«
Er rührte sich nicht. Aber sie konnte ihn atmen hören.
»Oooo!«, sagte sie. »Du bist sauer, was? Ich kann es an deinem Atem hören. Du bist ein böser kleiner Weißer. Du würdest mir jetzt gern die Scheiße aus dem Leib tasern, oder? Komm schon! Gib’s zu, Bruder! Sag’s nur! Lass es raus.«
Er sagte nichts.
»Schon gut. Schon gut! Wir wollten über meine Theorie reden. Was verwandelt ein unschuldiges Kind in einen Typen wie dich? Ich werd’s dir sagen, was ich darüber denke. Wir haben alle diese Bücher gelesen – Missbrauch, Bettnässen, Grausamkeit Tieren gegenüber, Kopfverletzungen, der ganze Kack. Tut mir leid, ich glaub nicht daran. Nein, was schafft einen Typen wie dich in ein Zimmer mit einer Frau wie mir? Eine Sache. Faulheit.«
Sie nickte, sie versuchte, total allwissend zu wirken, um diesem Penner eine Lektion zu erteilen.
»Faulheit. Mmm-hmm. Du hast eine Idee, eine kleine Fantasie. Und als Nächstes genießt du sie. Du glaubst, diese Fantasien machen etwas Besonderes aus dir, nicht wahr? Tja, vergiss es, tut mir leid. Das geht uns allen so. Ich hab mal davon geträumt …« Sie versuchte, sich irgendetwas total Entsetzliches auszudenken. »Ich hab mal davon geträumt, äh, einem Mann den Kopf abzuhacken. Du weißt schon, eine Beziehung, er betrügt mich, und eines Tages ist es mir einfach in den Sinn gekommen. Peng. Schneid ihm doch einfach den Kopf ab!
Problem gelöst. Ich habe ungefähr drei Wochen darüber nachgedacht. Wo würde ich es machen, wie würde ich es machen. Alibis. Beweisstücke. Mann, ich habe das alles genau durchdacht. Und eines Tages fiel mir ein: Hey! Hör auf, eine selbstsüchtige, dickärschige Hassfrau zu sein. Wenn du ein Problem mit dem Typen hast, verlass ihn. Und das habe ich auch getan.
Aber du?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Zu faul. Du könntest all dem ein Ende setzen, wenn du wolltest. Aber du willst nicht. Du bist zu faul.«
Sie wartete. Sie konnte es in der Luft spüren, dieser Blödmann wand sich, er wollte nur zu gerne reden und doch …
Tick. Tick. Tick.
Das Uhrticken hing in der Luft, und der Stille Mann sprach immer noch nicht.
Sie
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