Blindes Grauen
nicht. Hallo! Hallo! Ihre Hand ertastete den Hörer. Sie griff danach, hob ihn ans Ohr.
»MeChelle? Bist du da? MeChelle!« Es war Hank Gooch. Sie versuchte zu antworten, aber es war, als hätte man ihren Kiefer mit Draht umwickelt.
Dann hörte sie eine andere Stimme. Einen Augenblick lang glaubte sie, sie käme aus dem Telefon. Aber nein, es war die füllige Ansagerstimme. Die Uhr aus der Decke: »Ihnen bleiben genau … neun … Stunden.«
Nichts. Vier Stunden waren vergangen, und sie waren nicht weitergekommen. Sie sackte an die Wand, das Telefon ans Ohr gedrückt. Sie spürte Tränen aufsteigen, die ihre nutzlosen Augen badeten.
Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.
17
Hören wir uns noch einmal die Aufnahmen meiner Gespräche mit MeChelle an«, sagte Gooch. »Vielleicht habe ich etwas verpasst.«
Cody spulte das Band zurück, mit dem sie Gooch’ Anrufe bei MeChelle aufgenommen hatten, drückte den Abspielknopf. Sie hörten sich alle Gespräche hintereinander an. »Moment«, sagte Gooch ganz zum Schluss. »Was war das?«
Es war ganz am Ende ihres letzten Gespräches. Na ja, Gespräch war nicht das richtige Wort. Es war bloß gedämpftes Stöhnen. Direkt, bevor sie getrennt wurden.
Cody spielte es noch einmal ab. Es war ein fernes Fragment einer zweiten Stimme, nicht die Stimme MeChelles, sondern etwas anderes. » Ihnen bleiben genau … neun … Stunden. « Eine Höruhr. Eine Höruhr mit einer reichen, kraftvollen Stimme.
Cody zwinkerte. Das war er! Der Blinde!
»Spiel’s noch einmal.«
Cody spielte es erneut. Gooch spürte seinen Zorn. Er hatte doch gewusst, dass etwas mit diesem blinden Drecksack nicht stimmte! Gooch absolvierte eine Reifenschinder-Wende mitten auf der Ponce de Leon Avenue und raste zurück Richtung Decatur.
Er drückte auf Wiederwahl, wählte MeChelles Nummer.
Diesmal bekam er keine Antwort.
Gooch schaltete um zum Netzwerktechniker, der in der Wartschleife gehangen hatte. »Ortung?«
Tasten klickten. »Ja«, sagte der Handyfachmann. »Definitiv irgendeine wilde Transmitter-Veranstaltung. Diesmal kam das Signal aus Snellville.«
Gooch legte auf. Zwei Minuten später rasten sie durch die Innenstadt Decaturs und hielten quietschend vor dem Wohnhaus von Damon Fergus.
Gooch sprang aus dem Wagen, die Waffe gezogen.
Cody rannte hinter ihm her. »Sir? Sir? Was haben wir vor?«
Gooch antwortete nicht, während er die Treppe zu der Wohnung des Blinden hinauflief.
»Ich frage nur, weil«, Cody keuchte, als sie im zweiten Stock ankamen, »wir absolut nicht in unserem Einsatzbereich sind.«
Gooch blieb vor Apartment 301 stehen.
Er hämmerte gegen die Tür, drückte auf die Klingel, klopfte noch einmal.
»Polizei! Machen Sie die Tür auf!«
»Sir? Sollten wir nicht wenigstens die Polizei in Decatur informieren?«
»Öffnen Sie die Tür, Fergus!«
Keine Antwort. Die Tür bewegte sich nicht.
»Äh … Sir …«
»Zieh deine Waffe«, schnauzte Gooch. »Tritt die Tür ein.«
Cody Floss angelte nach seiner Dienstwaffe und schluckte nervös. »Sir, wir haben keinen Durchsuchungsbefehl. Ganz zu schweigen …«
Der Junge war nutzlos.
Gooch trat die Tür ein.
Drinnen war es dunkel. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe durch das Zimmer.
Leer.
Gooch lief in die Wohnung, trat die Zwischentür ein, fand ein Schlafzimmer. »Fergus!«, brüllte er.
Gooch sah im Kleiderschrank nach. Niemand da. Eine Menge schwarzer Klamotten.
Er konnte Cody im anderen Schlafzimmer herumwühlen hören. Gooch kam heraus und betrat das andere Zimmer. Es war aber gar kein Schlafzimmer. Es war ein Büro. Computer, Bücher, Bilder an der Wand. Das musste das Zimmer des Freundes sein. Blinde lasen keine Bücher oder hängten Bilder auf.
Cody Floss schaute aus dem begehbaren Kleiderschrank. »Hier ist niemand, Sir.«
Gooch ging wieder raus, sah im Bad nach. Leer.
Dann begriff er. Dieses Arschloch!
»Der Freund!«, sagte Gooch.
»Sir?« Cody schaute ihn entgeistert an.
Gooch schüttelte wütend den Kopf. »Wir müssen noch mal von vorne anfangen, Junge.«
18
Also«, fragte MeChelle den Stillen Mann, »hast du einen Namen?«
Sie erwartete keine Antwort. Aber versuchen musste man es.
»Ich bin MeChelle Deakes.« Sie streckte die Hand aus. »Wenn du dich vorgestellt hättest, statt bloß dazustehen wie so ein abartiger Sexmörder, hätte ich dir vielleicht auch nicht den Flaschenhals in die Rippen gerammt.«
Sie hielt inne und hörte, wie er atmete. Sie konnte ihn jetzt wahrnehmen.
»Das waren
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