Blindlings
und dem Bergkamm des Búdarháls. Die Hauptstraße war nur noch siebzig Kilometer entfernt – sofern man irgendwelche Straßen auf Island überhaupt als Hauptstraßen bezeichnen kann.
Aber verglichen mit den Fahrwegen des Obyggdir ist selbst die lausigste Hauptstraße noch eine wahre Pracht - vor allem, wenn man wie wir eine aufgeweichte Piste vor sich hatte. Dies ist ein Kernproblem im Juni, wenn die gefrorene Wintererde sich als eine gelatineartige Autofalle herausstellt. Das hinderte uns zwar nicht am Weiterfahren, verlangsamte jedoch beträchtlich unser Tempo. Mein einziger, wenn auch schwacher Trost war, daß es auch Kennikin nicht bessergehen würde. Um elf Uhr hatten wir eine Panne - ein Reifen platzte.
Es war ausgerechnet ein Vorderreifen, und ich focht einen wilden Kampf mit dem Lenkrad aus, bevor wir zum Stillstand kamen. »Bloß schnell«, sagte ich und griff nach dem Wagenheber.
Wenn wir schon einen Platten haben mußten, dann war dies noch eine einigermaßen günstige Stelle. Der Boden war eben und trocken genug, um den Wagenheber nicht abrutschen zu lassen. Ich hievte den vorderen Teil des Land-Rovers in die Höhe und machte mich daran, das Rad abzunehmen. Elin konnte wegen ihrer Schulter keine große Hilfe sein, und deshalb schlug ich ihr vor, Kaffee zu kochen, da wir etwas Heißes durchaus vertragen konnten.
Ich rollte den kaputten Reifen weg und ersetzte ihn durch einen Ersatzreifen. Die ganze Operation nahm knapp zehn Minuten in Anspruch, eine Verzögerung, die wir uns an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt nicht leisten konnten. Etwas weiter im Süden würden wir uns in einem mehr oder minder verzweigten Straßennetz verkrümeln können, aber auf diesen einsamen Pfaden in der Wildnis saß man wie in einer Falle. Ich zog die letzte Schraube an und untersuchte den kaputten Reifen, um herauszufinden, was die Panne verursacht hatte.
Was ich dabei entdeckte, ließ mir das Blut gerinnen.
Nur ein Geschoß konnte ein solches Loch in einen Reifen reißen. Irgendwo oben auf dem Kamm, in einer Felsspalte verborgen, mußte ein Heckenschütze hocken. Und wahrscheinlich hatte er mich genau im Visier.
3
Wie zum Teufel war es Kennikin gelungen, uns zu überholen!
Das war mein erster erbitterter Gedanke. Aber Gedanken waren müßig, ich mußte handeln. Ich hievte die Felge mit dem ruinierten Reifen hoch und befestigte sie auf der Motorhaube.
Während ich den Schraubenschlüssel drehte, warf ich einen versteckten Blick zum Bergkamm. Zwischen seinem Fuß und dem Fahrweg lagen mindestens zweihundert Meter. Also mußte der Scharfschütze gut und gern vierhundert Meter weit weg sein, wahrscheinlich sogar weiter. Ein Mann, der auf über vierhundert Meter Entfernung einen Reifen treffen kann, muß ein verdammt guter Schütze sein. So gut, daß er jederzeit auch mir eine Kugel in den Leib jagen konnte. Warum hatte er das nicht getan? Ich war doch eine ideale Zielscheibe für ihn, und trotzdem flogen mir keine Kugeln um den Kopf. Als ich die letzte Schraube anzog, wandte ich dem Bergkamm den Rücken zu, was mir ein unangenehm prickelndes Gefühl zwischen den Schulterblättern verursachte, genau dort, wo mich die Kugel treffen würde, sofern der Mann noch einmal schoß.
Ich sprang herunter, verstaute den Schraubenschlüssel und den Wagenheber und bemühte mich, so unbefangen wie möglich zu wirken. Meine Handflächen klebten vor Schweiß.
Ich ging nach hinten und steckte meinen Kopf durch die geöffnete Wagentür. »Wie steht’s mit dem Kaffee?« »Gerade fertig«, antwortete Elin.
Ich stieg ein und ließ mich nieder. Dieser winzige Raum verschaffte mir die angenehme Illusion des Geschütztseins -
aber mehr als eine Illusion war es wirklich nicht. Zum zweitenmal wünschte ich mir, der Land-Rover wäre gepanzert.
Von meinem Sitz aus konnte ich unauffällig die Hänge des Bergkamms inspizieren, wovon ich reichlich Gebrauch machte.
Zwischen den roten und grauen Felsen rührte sich gar nichts, niemand stand auf, winkte oder jauchzte. Falls überhaupt noch jemand da war, dann verhielt er sich mucksmäuschenstill, was von seinem Standpunkt aus gesehen natürlich das einzig Vernünftige war. Aber war der Schütze überhaupt noch dort oben? Vermutlich ja. Welcher halbwegs normale Mensch käme schon auf die Idee, ein Loch in einen Autoreifen zu schießen und sich dann einfach zu verdrücken? Dieser Jemand lauerte mit großer Wahrscheinlichkeit dort oben und beobachtete die Situation aus seinem sicheren
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