Blindwütig: Roman
beabsichtigte.
Nachdem ich die beiden Bilder eine kleine Weile betrachtet hatte, wandte ich mich um und kam direkt zur Sache: »Mrs Casas, war Ihr Sohn mit Thomas Landulf befreundet?«
Sie sah mir genauso direkt in die Augen wie Penny, und ich erkannte, dass sie bereits entschieden hatte, mir zu vertrauen. »Ja«, sagte sie, »die beiden waren sogar gute Freunde.«
»Glaubt Henry, dass Landulf seine Frau und sein Kind getötet und sich dann selbst in Brand gesetzt hat?«
»Nein, Mr Greenwich, das glaubt er nicht.«
»Bitte sagen Sie doch Cubby zu mir.«
»Danke, Cubby. Ich heiße Arabella. Für meine Freunde einfach Bella.«
»Schön. Hält Henry es für möglich, dass er von denselben Leuten misshandelt wurde, von denen die Landulfs ermordet worden sind?«
»Dessen ist er sich sogar sicher. Leider hat die Polizei den
Fall Landulf zu den Akten gelegt, und was Henrys Fall angeht, hat man keinerlei Fortschritte gemacht.«
»Bella, dieselben Leute, die Tom Landulf und seine Familie umgebracht und die Ihren Sohn terrorisiert haben - die versuchen nun, mich und meine Familie umzubringen.«
»Dann helfe Ihnen Gott, Cubby! Aber bestimmt will Henry Ihnen auch helfen. Ich nehme an, Sie wollen mit ihm sprechen.«
»Wenn es ihm nicht zu schwer fällt.«
»Sind Sie bereit für ihn? Wissen Sie, was man ihm angetan hat?«
»Ja. Aber davon zu hören ist bestimmt nicht dasselbe, wie es mit eigenen Augen zu sehen.«
»Ganz und gar nicht«, sagte sie. »Aber bitte denken Sie daran, dass er kein Mitleid will, noch nicht einmal Mitgefühl. Besonders nicht von jemandem, den er so bewundert wie Sie.«
Ich nickte. »Ich werde ihn nicht kränken.«
»Vielleicht haben Sie diese Theorie der Polizei gehört, dass Henry angeblich in einer Schwulenbar irgendwelche Männer angesprochen hat und dann mit ihnen mitgegangen ist, ohne zu erkennen, dass er in die Hände von Psychopathen gefallen war.«
»Nein, das weiß ich noch nicht.«
»Es stimmt auch gar nicht. Henry ist nicht schwul, und die Männer, die ihn verstümmelt haben, waren es auch nicht. Man hat ihn hier in diesem Haus mitten in der Nacht aufgeweckt, um ihn zu entführen - und zwei Monate später wieder zurückzubringen. Bitte warten Sie hier, während ich ihm sage, dass Sie zu Besuch gekommen sind.«
Die folgenden zehn Minuten blieb ich allein. Ich verbrachte sie damit, mich in die beiden Gemälde zu versenken.
Inzwischen war Henry Casas nicht mehr in der Lage, solche großartigen Werke zu schaffen. Gerade sechsunddreißig
Jahre alt, hatte man ihn mit einer ätzenden Säure geblendet und ihm mit chirurgischer Präzision die Hände amputiert.
Entfernt hatte man auch seine Zunge und seine Stimmbänder, vielleicht weil bekannt war, dass er seine Vorstellung von Malerei und Kultur eloquent gegen gewisse Kunstideologien verteidigte.
Nun verbrachte er sein Leben, ohne etwas sehen und schmecken zu können. Er konnte sich ohne Hilfsmittel nicht verständlich machen und hatte kein Ventil für sein Talent mehr. Tot war er zwar nicht, aber vielleicht überlegte er sich an besonders schlimmen Tagen, selbst den letzten Schritt zu tun.
47
Ein ehemaliger Salon im Obergeschoss war in eine Kombination aus Schlafzimmer, Wohnzimmer und Studio verwandelt worden. Auf dem Holzboden lag kein Teppich.
Mehrere Staffeleien und allerhand Malwerkzeug wiesen darauf hin, dass Henry immer noch irgendwie arbeitete, wenngleich keine Gemälde zu sehen waren.
Barfuß, in Jeans und ein Flanellhemd gekleidet, saß er auf einem Bürostuhl mit Rollen vor dem Computer, von dem er sich abwandte, als er uns kommen hörte.
Seine künstlichen Augen bewegten sich, als wären sie echt gewesen, obwohl er völlig blind war. Wie seine Mutter mir erklärt hatte, handelte es sich um Halbkugeln aus Kunststoff, die an den Augenmuskeln befestigt waren.
Er war immer noch ein gut aussehender Mann, und nichts an seinem Gesichtsausdruck oder seiner Haltung ließ darauf schließen, dass er sich besiegt fühlte.
An seinen Armstümpfen waren keine Prothesen befestigt, die aussahen wie echte Hände, sondern dreifingrige Apparaturen, die durch Nervenimpulse gesteuert wurden.
Als ich ihm sagte, wie sehr ich mich freute, ihn kennenzulernen, und wie gut mir die Bilder in der Bibliothek gefielen, hoffte ich, wirklich ausdrücken zu können, dass ich es ehrlich meinte. Tatsächlich reagierte er mit einem feinen Lächeln.
Zur Antwort wandte er sich dem Computer zu und begann, mit einem seiner stählernen Finger auf die
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