Blindwütig: Roman
diese Sache geheim halten wirst, aus Schuldgefühlen heraus, aus Scham … oder aus Bescheidenheit. Schließlich zeigt sie, was für ein tapferer und anständiger Junge du warst.«
»Tapfer war ich nicht«, sagte ich.
»O doch. Für deine sechs Jahre warst du sehr tapfer. Und Edith hielt es für ein echtes Wunder, dass du verschont wurdest und vor allem, auf welche Weise das geschah. Deshalb meinte sie, deine spätere Frau sollte wissen, dass ihr Mann ein besonderes Schicksal hat. Also hat sie alles in einem langen Brief aufgeschrieben, den sie ihrem Anwalt anvertraut hat.«
»Johnson Leroy.«
»Genau. Auf ihre Bitte hin hat er dich nach ihrem Tod im Auge behalten, und als er von unserer Hochzeit erfuhr, hat er mir den Brief geschickt.«
»Aber wieso hast du mir das nie gesagt?«
»Edith hat die Empfängerin des Briefs gebeten, das nicht zu tun. Du solltest die Chance haben, es aus eigenem Antrieb heraus zu erzählen, früher oder auch später.«
Es hatte mir davor gegraut, die grässlichen Einzelheiten auszubreiten. Nun, vierzehn Jahre nach ihrem Tod, hatte Edith mich von dieser Last befreit.
»Sie muss eine großartige Frau gewesen sein«, sagte Penny.
Ich nickte. »Ich glaube, sie war ihrer Schwester sehr ähnlich. Deshalb habe ich meine Mutter auch nicht ganz verloren, als ich sechs war. Jedenfalls in gewisser Weise.«
»Den Anfang des Briefs habe ich auswendig gelernt: ›Liebe namenlose junge Frau, ich weiß, du hast ein gutes Herz und ein wunderschönes Lachen, denn Cubby hat sich entschieden,
sein Leben mit dir zu verbringen, und Cubby weiß ganz genau, worauf es ankommt.‹«
Eine kleine Weile brachte ich kein Wort heraus. Dann sagte ich: »Den Brief würde ich gern lesen.«
»Ich habe ihn für dich aufgehoben«, sagte Penny. »Und auch für Milo, wenn er so weit ist.«
»Na, also, da weiß ich nicht recht …«
»Doch, doch, das weißt du schon«, sagte Penny. »Irgendwann sollte Milo ihn lesen. Falls es sich tatsächlich um eine Art Wunder gehandelt hat, sollten wir nicht so tun, als wüssten wir nicht, weshalb du verschont wurdest. Ohne dich und mich gäbe es keinen Milo. Und eines weiß ich ganz gewiss: Irgendwann und irgendwie wird die Welt ein besserer Ort sein, weil Milo darin lebt. Meinst du nicht?«
Ich sah ihr in die Augen. »Doch, schon. Ja. Irgendwie.«
Penny war fertig damit, ihre Pistole zu reinigen, und legte sie beiseite. »Willst du noch etwas anderes hören, was ich ganz sicher weiß?«
»Falls es sich um eine große Überraschung handeln sollte - mit einer werde ich noch fertig.«
»Bestimmt wirst du nie wieder ein Problem mit einem Werkzeug oder einer Maschine haben. Keine blau gehämmerten Daumen mehr, keine Staubsaugerkatastrophen.«
»Dazu bräuchte es ein zweites Wunder.«
»Weil diese ganze Tollpatschigkeit nie etwas anderes war als eine Ausflucht, um keine Waffe besitzen und nicht lernen zu müssen, wie man eine verwendet.«
»Wo hast du denn das Psychologiediplom her?«
»Von der Schule des gesunden Menschenverstands. Wenn jemand es schafft, selbst das Toasten einer Scheibe Brot zu einem Desaster zu machen, würde man schließlich nie von ihm verlangen, eine Pistole in die Hand zu nehmen.«
»Also, ein Ausdruck wie Desaster ist nun doch ein wenig übertrieben«, protestierte ich.
»Die Reparatur der Küche hat dreitausend Dollar gekostet. Und du bist gar kein Tollpatsch. Denk mal daran, wie gut du schreiben kannst. Und wie du im Bett bist.«
»Mit Jon Bon Jovi kann ich mich aber nicht messen.«
»Und ich bin kein Schulmädchen mehr, das sich mit solchen Erwartungen zufriedengeben würde. Jedenfalls hast du heute einigermaßen schießen gelernt, ohne dass dir der Himmel auf den Kopf gefallen ist.«
»Der Tag ist noch nicht vorüber.«
Sie küsste mich. Ihre Zunge schmeckte gut.
»Mit einem hat Tante Edith definitiv Recht gehabt«, sagte ich. »Von Frauen verstehe ich was.«
Während Lassie mich durchs Wagenfenster hindurch beobachtet hatte, hatte sie mich so herzhaft ausgelacht, dass sie nun pinkeln musste.
Als das erledigt war, lenkte Penny den Wagen vom Kies auf den Feldweg, der zurück zum Highway 101 führte.
»Wie ist es mit dem Schießen gelaufen?«, erkundigte sich Milo, der gerade erst aufgewacht war.
»Deine Mutter ist noch am Leben«, sagte ich.
»Und wie geht es deinen Füßen?«
»Ich habe keinen davon getroffen.«
»Hurra!«
Mein neues Wegwerfhandy klingelte: Vivian Norby. Sie hatte sich auch so ein Gerät besorgt und wollte uns
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