Blink! - die Macht des Moments
Kritiker konzentrieren sich häufig auf einzelne Polizeibeamte und werfen ihnen bewussten Rassismus oder andere
Vorurteile vor. Die Polizei verschanzt sich dagegen gern hinter dem, was Fyfe das »Sekundenbruchteil-Syndrom« nennt: Der Beamte
eilt so schnell wie möglich zum Einsatzort. Er sieht den Täter. Er hat keine Zeit zum Nachdenken. Er handelt. Dabei sind Fehler
unvermeidlich. Letztlich lassen beide Sichtweisen nicht den geringsten Spielraum für Alternativen. Beide gehen davon aus,
dass eine Situation notgedrungen eskaliert, wenn sie erst einmal an einem bestimmten Punkt angekommen ist. Wenn es um unsere
instinktiven Reaktionen geht, ist diese Ansicht weit verbreitet. Doch diese Annahme ist falsch. Unser unbewusstes Denken unterscheidet
sich in einem ganz wichtigen Punkt nicht von unserem bewussten Denken: Es ist lernfähig, und deshalb können wir mit Übung
und Erfahrung lernen, unsere Spontanentscheidungen zu entwickeln und zu verbessern.
Extreme Erregung und Gefühlsblindheit sind nicht die notwendige Folge einer Stresssituation. De Becker, dessen Firma Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens beschützt, lässt seine Leibwächter ein Programm durchlaufen, dass er Stressimpfung nennt. »In unserem
Test sagt die zu bewachende Person: ›Komm mal her, ich höre da ein Geräusch.‹ Und wenn Sie um die Ecke kommen, macht es Peng!
und jemand schießt auf Sie. Natürlich nicht mit einer echten Pistole. Die Patrone ist aus Plastik und hinterlässt einen Farbklecks
– aber Sie spüren es. Und dann müssen Sie handeln. Dann geht das Ganze noch mal von vorn los, und diesmal schießen wir auf
Sie, während Sie ins Haus gehen. Wenn Sie das vierte oder fünfte Mal in der Simulation getroffen werden, dann haben Sie gelernt,
trotzdem einen kühlen Kopf zu behalten.« In |232| einer ähnlichen Übung sehen sich die angehenden Leibwächter mehrmals hintereinander einem wütenden Hund gegenüber. »Anfangs
geht ihr Puls auf 175. Sie können nicht mehr richtig sehen. Beim zweiten oder dritten Mal sind es nur noch 120, dann 110,
und dann sind sie in der Lage zu handeln.« Zusammen mit der Erfahrung im alltäglichen Einsatz sorgen diese wieder und wieder
durchgeführten Übungen dafür, dass sich die Reaktionen eines Polizisten in bedrohlichen Situationen verändern.
Auch das Gedankenlesen ist eine Fähigkeit, die sich einüben lässt. Silvan Tomkins, vielleicht einer der fähigsten Gedankenleser
überhaupt, übte bei jeder Gelegenheit. Als sein Sohn Mark zur Welt kam, nahm er sich eine Auszeit von seiner Arbeit an der
Universität und blieb zu Hause. Er starrte seinem Söhnchen lange und konzentriert ins Gesicht, um all die Gesichtsausdrücke
zu verstehen – das Kommen und Gehen von Interesse, Freude, Traurigkeit und Ärger –, die jeden Moment über das Gesicht eines
Kleinkindes huschen. Er sammelte Tausende von Fotos von menschlichen Gesichtern mit jedem erdenklichen Ausdruck und lernte,
welche Logik hinter bestimmten Grübchen oder Falten steckt.
Paul Ekman hat eine Reihe einfacher Tests entwickelt, um zu ermitteln, wie gut jemand Gedanken lesen kann. In einem Test spielt
er Versuchspersonen ein Dutzend kurzer Filmsequenzen vor, in denen Menschen kurze Geschichten aus ihrem Leben erzählen, und
die Zuschauer müssen herausfinden, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht. Diese Tests sind überraschend schwierig, und die
meisten Testpersonen kommen nicht über Zufallstreffer hinaus. Allerdings verbessert sich das Ergebnis mit einiger Übung. Besonders
gut schnitten Schlaganfallpatienten ab, deren Sprachzentrum gestört ist, denn sie haben gelernt, in den Gesichtern ihrer Gesprächspartner
zu lesen. Auch Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, schneiden gut ab: Ähnlich wie Schlaganfallpatienten waren
sie darauf angewiesen, Gedanken zu lesen, in ihrem Fall von alkoholkranken oder gewalttätigen Eltern. Ekman bietet Kurse für
private Wachdienste an, in denen |233| er die Mitarbeiter im Gedankenlesen schult. Er behauptet, man könne binnen einer halben Stunde lernen, Mikro-Ausdrücke zu
erkennen. »Ich hatte ein Übungsvideo, von dem die Kursteilnehmer ganz begeistert waren«, erzählt er. »Am Anfang erkannten
sie gar nichts, aber eine halbe Stunde später entdeckten sie alles. Es ist ganz einfach zu lernen.«
In einem von David Klingers Interviews begegnen wir einem altgedienten Polizeibeamten, der in seiner Laufbahn viele gewalttätige
Weitere Kostenlose Bücher