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Blink! - die Macht des Moments

Titel: Blink! - die Macht des Moments Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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haben, sonst wäre er nicht da. Obendrein ist er klein. Woher
     nimmt er den Mumm, allein mitten in der Nacht da draußen rumzustehen? Er hat eine Pistole. So in etwa geht der Gedankengang.«
     Sie setzen zurück. Carroll sagte später, er sei »überrascht« gewesen, dass Diallo sich nicht vom Fleck gerührt habe. Laufen
     böse Jungs nicht weg, wenn sie Polizisten um die Ecke biegen sehen? Carroll und McMellon steigen aus, halten ihre Dienstmarken
     hoch und McMellon ruft: »Polizei! Wir würden uns gern mit Ihnen unterhalten.« Diallo antwortet nicht. Er hat natürlich Angst,
     und diese Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Zwei riesige weiße Männer, die zu dieser Zeit an diesem Ort nichts zu suchen
     haben, stehen vor ihm. Doch den Polizisten bleibt keine Zeit, seine Gedanken zu lesen, denn schon hat sich Diallo umgedreht
     und rennt in den Hausflur. Mit einem Mal verwandelt sich die Begegnung in eine Verfolgungsjagd, und Carroll und McMellon fehlt
     die Erfahrung des Beamten, der selbst abwartete, als er schon den verchromten Lauf und den Perlmutgriff einer Pistole sah.
     Ihre Nerven liegen blank. Sie sind neu in der Bronx, neu bei der Einheit zur Bekämpfung von Straßenkriminalität, sie sind
     nicht an die unvorstellbare psychische Belastung gewohnt, jemandem in einen dunklen Hausflur zu folgen, von dem man annimmt,
     er habe eine Waffe. Ihr Puls |236| rast. Ihre Wahrnehmung verengt sich zum Tunnelblick. Vom Gehsteig zur Treppe und von dort zum Eingang des Apartmenthauses
     sind es nur ein paar Schritte – es gibt hier keinen weißen Raum. Als Carroll und McMellon aus dem Wagen aussteigen, sind sie
     keine 5 Meter von Diallo entfernt. Nun läuft Diallo weg. Es ist eine Verfolgungsjagd! Vorher waren Carroll und McMellon vielleicht
     ein bisschen nervös. Aber wo ist ihr Puls jetzt? Bei 175? Bei 200? Diallo steht jetzt im Hausflur vor der Innentür. Er dreht
     sich seitwärts und fährt mit der Hand in seine Hosentasche. Carroll und McMellon haben nichts, wohinter sie sich verstecken
     können, keine Deckung, die es ihnen erlauben würde, die Ereignisse zu verlangsamen. Sie stehen in der Schusslinie, und Carroll
     sieht, dass Diallo etwas Schwarzes in der Hand hält. Es ist sein Geldbeutel. Doch Diallo ist schwarz, es ist nach Mitternacht,
     sie sind in der South Bronx, die Zeit wird in Zehntelsekunden gemessen, und in dieser Stresssituation sehen Geldbeutel nun
     einmal aus wie Pistolen. Diallos Gesicht spricht zwar eine andere Sprache, aber Carroll sieht das Gesicht nicht einmal – und
     selbst wenn, dann würde er dessen Ausdruck vermutlich gar nicht verstehen. Er kann jetzt keine Gedanken mehr lesen, er hat
     sich in einen Autisten verwandelt. Er starrt auf Diallos Hand, so wie Peter in der Kussszene zwischen Martha und George den
     Lichtschalter anstarrte. Carroll schreit: »Pistole! Er hat eine Pistole!« und eröffnet das Feuer. McMellon fällt nach hinten
     und beginnt ebenfalls zu schießen. Und wenn ein Mann nach hinten fällt, während gleichzeitig Pistolenschüsse zu hören sind,
     kann das nur eines bedeuten:
Er ist von
einer Kugel getroffen worden.
Also schießt Carroll weiter, Mc-Mellon sieht Carroll schießen und schießt seinerseits, und Boss und Murphy sehen Carroll und
     McMellon schießen, springen aus dem Wagen und beginnen ebenfalls zu schießen. Am nächsten Tag werden die Zeitungen besonders
     hervorheben, dass die Polizisten 41 Schüsse abgaben, doch um 41-mal zu schießen, benötigen vier Männer mit halbautomatischen
     Pistolen zweieinhalb Sekunden. Der ganze Vorgang, von Anfang bis Ende, hat vermutlich weniger |237| Zeit in Anspruch genommen, als Sie gebraucht haben, um diesen Absatz zu lesen. Doch innerhalb dieser wenigen Sekunden wurden
     so viele Entscheidungen getroffen, wie andere sie in einem ganzen Leben fällen.
    Carroll und McMellon sprechen Diallo an.
Einundzwanzig.
Er dreht sich um und rennt in den Hausflur
Zweiundzwanzig.
Sie rennen ihm nach, über den Gehsteig die Treppe hinauf.
Dreiundzwanzig
.
Diallo steht im Hausflur und zieht etwas aus der Tasche.
Vierundzwanzig.
Carroll ruft »Pistole! Er hat eine Pistole!«. Die Schießerei beginnt.
Fünfundzwanzig. Sechsundzwanzig.
Peng! Peng! Peng!
Siebenundzwanzig.
Stille. Boss rennt zu Diallo, schaut auf den Boden und schreit »Wo ist die scheiß Pistole?«. Dann rennt er hinauf zur Westchester
     Avenue, weil er in seiner Erregung vergessen hat, wo sie sich befinden. Carroll setzt sich neben Diallos durchlöcherten

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