Blink! - die Macht des Moments
das Video ansehen: Ihnen blieb keine Zeit. Das ist der zweite wichtige Grund für
Gefühlsblindheit.
Gavin de Becker, Autor des Buches
Mut zur Angst
und Leiter einer Sicherheitsagentur in Los Angeles, nennt als wichtigsten Faktor bei der Bewachung einer Person den »weißen
Raum«, die Entfernung zwischen einem Ziel und einem möglichen Angreifer. Je größer dieser weiße Raum, desto mehr Zeit bleibt
dem Leibwächter zu reagieren. Und je mehr Zeit ein Leibwächter hat, desto |225| besser kann er die Gedanken eines möglichen Attentäters lesen. Aber als Reagan das Hotel verließ, gab es keinen weißen Raum.
Hinckley hatte sich unter eine Gruppe von Reportern gemischt, die wenige Meter vom Präsidenten entfernt stand. Die Leibwächter
bemerkten ihn erst, als er schon die ersten Schüsse abgab. Zwischen dem Moment, in dem die Leibwächter begriffen, dass es
sich um einen Angriff auf das Leben des Präsidenten handelte – dieser Moment wird in Sicherheitskreisen als »Moment der Erkenntnis«
bezeichnet –, bis zu dem Moment, in dem der Attentäter überwältigt war, vergingen 1,8 Sekunden. »Beim Reagan-Attentat handelten
zahlreiche Personen geradezu heldenhaft«, schreibt de Becker. »Trotzdem gelang es Hinckley, sechs Schüsse abzugeben. Mit anderen
Worten, der heldenhafte Einsatz brachte wenig, da der Attentäter dem Präsidenten zu nahe kommen konnte. In der Videoaufnahme
sehen wir einen Leibwächter, der seine Maschinenpistole aus seiner Tasche zieht und dann einfach dasteht. Ein weiterer zieht
seine Pistole. Aber auf wen sollen sie noch schießen? Es ist vorbei.« In diesen 1,8 Sekunden blieb den Leibwächtern nur die
primitivste automatische Reaktion, die in diesem Fall völlig nutzlos war, nämlich, ihre Waffen zu ziehen. Sie hatten keinerlei
Möglichkeit, die Situation zu verstehen und vorherzusehen, was passieren würde. »Ohne Zeit bleibt Ihnen nur die allerschlechteste
intuitive Reaktion.«
Wir denken nicht allzu häufig darüber nach, welche Rolle Zeit spielt, wenn es um Leben und Tod geht, vielleicht auch, weil
uns Hollywood ein völlig falsches Bild davon vermittelt hat, was in einer gewalttätigen Auseinandersetzung tatsächlich passiert.
Im Film ziehen sich Schießereien lange hin, ein Polizist hat genügend Zeit, sich mit seinem Partner auszutauschen, der Bösewicht
hat Zeit, den Polizisten ein Ultimatum zuzurufen, und das Feuergefecht entwickelt sich allmählich zu einem dramatischen Höhepunkt
und schrecklichen Finale. Aber in den meisten Fällen nimmt schon die knappste verbale Zusammenfassung einer Schießerei mehr
Zeit in Anspruch als die Schießerei selbst. Den missglückten |226| Anschlag auf den Präsidenten von Südkorea vor einigen Jahren beschreibt de Becker wie folgt: »Der Attentäter steht auf und
schießt sich ins Bein. Damit beginnt es. Er ist nervös und hat jede Kontrolle verloren. Dann schießt er auf den Präsidenten
und verfehlt ihn. Statt dessen trifft er die Frau des Präsidenten in den Kopf und tötet sie. Der Leibwächter steht auf und
schießt zurück. Auch er verfehlt sein Ziel. Stattdessen trifft er einen achtjährigen Jungen. Auf beiden Seiten geht alles
schief.« Was meinen Sie, wie viel Zeit zwischen dem ersten Schuss des Attentäters und dem des Leibwächters verging? 15 Sekunden?
20? Es waren dreieinhalb Sekunden.
Ich behaupte, dass wir uns in Momenten, in denen wir unter Zeitdruck geraten, zeitweise in Autisten verwandeln. Der Psychologe
Keith Payne hat ein Experiment durchgeführt, das ähnlich funktioniert wie der Implicit Association Test und die Priming-Versuche
von John Bargh aus Kapitel 2. Er setzte seine Studenten vor einen Computer und zeigte ihnen Fotos eines weißen oder eines
schwarzen Mannes. Dann blitzte das Bild einer Pistole oder einer Rohrzange auf. Die Versuchspersonen sahen dieses Bild nur
zwei Zehntelsekunden lang, dann sollten sie den Gegenstand benennen. Payne hatte das Experiment in Anlehnung an den Fall Diallo
entwickelt. Das Resultat war wenig überraschend: Hatten die Versuchspersonen zuerst ein schwarzes Gesicht gesehen, erkannten
sie eine Pistole eher als Pistole, als wenn sie erst ein weißes Gesicht gesehen hatten. Dann veränderte Payne das Experiment.
Statt die Versuchspersonen selbst bestimmen zu lassen, wie schnell oder wie langsam sie reagieren, zwang er sie, innerhalb
einer halben Sekunde eine Entscheidung zu treffen. Nun machten die Testpersonen Fehler. Wenn sie
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