Blink! - die Macht des Moments
teilte man ihr mit. Einen Grund nannte man ihr nicht. Conant sollte ein Jahr lang auf
Probe weiterspielen, um sich erneut zu bewähren. Es änderte nichts. »Sie kennen das Problem«, erklärte ihr Celibidache. »Wir
brauchen einen Mann für die Soloposaune.«
Conant blieb nichts anderes übrig, als vor Gericht zu gehen. Die Orchesterleitung argumentierte, die Klägerin besitze nicht
die notwendige physische Kraft, um die Soloposaune zu spielen. Conant wurde zu umfassenden Tests in die Lungenabteilung des
Zentralkrankenhauses Gauting geschickt. Sie pustete in spezielle Maschinen, ihr Blut wurde daraufhin überprüft, wie viel Sauerstoff
es aufnehmen konnte, ihre Brust wurde vermessen. Ihre Werte waren so ungewöhnlich gut, dass eine Schwester sie fragte, ob
sie Leistungssportlerin sei. Doch damit war der Fall noch nicht abgeschlossen. Nun behauptete die Orchesterleitung, in ihrer
Ausführung des berühmten Posaunensolos aus Mozarts
Requiem
sei ihre Kurzatmigkeit unüberhörbar gewesen – und das, obwohl der Gastdirigent, der die Aufführung geleitet hatte, Conant
sogar besonders lobend hervorgehoben hatte. Eine spezielle Anhörung mit einem Posaunenexperten wurde anberaumt. Conant spielte
sieben der schwierigsten Passagen aus dem Posaunen-Repertoire. Der Experte war hingerissen. Nun beschuldigte die Orchesterleitung
Conant, sie sei unzuverlässig und unprofessionell. Auch das |241| war eine Lüge. Nach acht Jahren erhielt Conant die Stelle als Soloposaunistin zurück.
Doch es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, ehe die Auseinandersetzungen endgültig beigelegt wurden. Denn nun weigerte
sich die Orchesterleitung, Conant dasselbe Gehalt zu bezahlen wie ihren männlichen Kollegen. Auch diesen Streitfall gewann
sie, so wie sie jeden weiteren Streit mit dem Orchester für sich entscheiden konnte. Und sie gewann, weil sie ein unwiderlegbares
Argument ins Feld führen konnte: Sergiu Celibidache, der Mann, der ihre Fähigkeiten in Zweifel zog, hatte ihre Darbietung
von Ferdinand Davids Konzert für Posaune unter objektiven Bedingungen gehört, in diesem nicht durch Vorurteile belasteten
Moment gesagt: »Der ist es!« und daraufhin die Mitbewerber nach Hause geschickt. Der Wandschirm hatte Abbie Conant gerettet.
Eine Revolution in der klassischen Musik
Die Welt der klassischen Musik war insbesondere in Europa bis vor kurzem überwiegend eine Männer-Domäne. Frauen könnten einfach
nicht so gut spielen wie Männer, glaubte man. Sie hätten nicht die Physis, die Einstellung oder das Durchhaltevermögen, um
bestimmte Stücke spielen zu können. Ihre Lippen seien anders geformt. Ihre Lungen seien weniger kräftig. Ihre Hände seien
kleiner. Das schien nichts mit Vorurteilen zu tun zu haben und schien sich immer wieder auf Neue zu bestätigen, denn wenn
Dirigenten und Generalmusikdirektoren Kandidaten zum Probespiel einluden, dann schienen die Darbietungen der männlichen Bewerber
immer besser zu sein als die der weiblichen Konkurrenz. Niemand maß den äußeren Umständen des Probespiels allzu große Bedeutung
bei, denn es war ein Glaubenssatz unter professionellen Musikern, dass sie sich niemals von den Umständen ablenken lassen
würden, sondern stets innerhalb weniger Takte zu |242| einem objektiven Urteil über die Qualität der Darbietung kämen. Es kam vor, dass ein Dirigent die Bewerber in seiner Garderobe
oder im Hotelzimmer vorspielen ließ. Die Musiker spielten drei, fünf, zehn Minuten, es war egal: Musik ist Musik. Rainer Kuchl,
Soloviolinist der Wiener Philharmoniker, sagte einmal, er könne mit geschlossenen Augen einen Violinisten von einer Violinistin
unterscheiden: Das geübte Ohr könne die Weichheit und Flexibilität der weiblichen Hand heraushören.
Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich in der Welt der Musik eine Revolution vollzogen. In den Vereinigten Staaten und in
anderen Teilen der Welt begannen die Musiker, sich in Gewerkschaften zu organisieren, Verträge auszuhandeln und vor allem
faire Einstellungsverfahren durchzusetzen. Zahlreiche Musiker waren der Ansicht, Dirigenten missbrauchten ihre Macht und förderten
nur ihre Günstlinge. Sie verlangten, dass das Vorspielen Regeln unterworfen sein müsse. Statt des Dirigenten sollte ein Gremium
über die Auswahl entscheiden. Manche Orchester setzten durch, dass die Mitglieder der Jury während des Auswahlverfahrens nicht
miteinander sprechen durften, um das Urteil des Einzelnen nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher