Blink! - die Macht des Moments
beeinflussen. Die Musiker wurden nicht mehr namentlich
vorgestellt, sondern erhielten eine Nummer und spielten hinter einem Wandschirm oder einem Vorhang. Kandidaten, die sich räuspern
mussten oder irgendein Geräusch machten, das auf ihre Identität schließen ließ, wurden hinausgeführt und erhielten eine neue
Nummer. In Orchestern, die diese Regeln einhielten, ging eine Wandlung vor sich: Mit einem Mal stellten sie mehr Frauen ein.
In den renommiertesten Orchestern der Vereinigten Staaten hat sich seit Einführung der blinden Auswahlverfahren vor etwa 30
Jahren die Zahl der Musikerinnen verfünffacht. »Als wir das erste Mal nach den neuen Regeln vorgegangen sind, ging es um vier
neue Violinisten«, erinnert sich Herb Weksleblatt, ein Tubaspieler des Orchesters der Metropolitan Opera in New York, der
sich in den sechziger Jahren für die Einführung blinder Auswahlverfahren |243| engagiert hatte. »Alle vier Gewinner waren Frauen. Das wäre vorher nie passiert. Zu diesem Zeitpunkt spielten
im gesamten
Orchester
drei Frauen. Ich erinnere mich, dass ein Kollege stinkwütend auf mich zukam und sagte: ›Du wirst in die Geschichte eingehen
als das Arschloch, das Frauen in dieses Orchester geholt hat.‹«
Es stellte sich heraus, dass die scheinbar so objektiven ersten Eindrücke vom Spiel eines Musikers tatsächlich alles andere
als objektiv waren. »Einige Musiker sehen so aus, als würden sie sehr viel besser spielen, als sie es tatsächlich tun. Sie
strahlen Selbstsicherheit aus oder haben eine bessere Haltung«, erklärt ein Musiker, der an vielen Auswahlverfahren beteiligt
war. »Andere Musiker wiederum sehen schrecklich aus, wenn sie spielen, aber sie klingen großartig. Es gibt Musiker, die sehen
beim Spielen furchtbar angestrengt aus, aber man hört es nicht. Es gibt immer einen Unterschied zwischen dem, was Sie sehen,
und dem, was Sie hören. Das Probespiel beginnt in dem Moment, in dem der Musiker die Bühne betritt. Sie denken sich: ›Wer
ist dieser Streber?‹ oder ›Was glaubt dieser Stutzer, wer er ist?‹ – einfach nur, wenn sie mit dem Instrument in der Hand
auf die Bühne kommen.«
Julie Landsman, Hornistin im Orchester der Metropolitan Opera in New York, sagt, es lenke sie immer ab, wenn sie den Mund
eines Kandidaten sehe. »Wenn jemand das Mundstück komisch ansetzt, dann denken Sie sofort, das kann doch unmöglich was werden.
Aber es gibt noch viel mehr Dinge, die einen vom eigentlichen Spiel ablenken können. Es gibt Hornisten, die spielen auf Messinginstrumenten,
andere auf versilberten. Am Horn können Sie sehen, woher jemand kommt, welchen Lehrer er möglicherweise hatte, und so ziehen
Sie eine Reihe von Schlüssen, die großen Einfluss auf Ihr Urteil haben. Ich habe an Auswahlverfahren ohne Wandschirm teilgenommen,
und ich gebe unumwunden zu: Auch ich war voreingenommen. Ich begann, mit den Augen zu hören. Und es kann mir niemand erzählen,
dass das Urteil nicht |244| von den Augen beeinflusst wird. Die einzig wahre Art des Hörens ist mit dem Herzen und mit den Ohren.«
Das National Symphony Orchestra in Washington D.C. stellte Sylvia Alimena als Solohornistin ein. Hätte sie diese Stelle bekommen,
wenn sie ohne Wandschirm vorgespielt hätte? Vermutlich nicht. Das Horn ist ähnlich wie die Posaune ein »männliches« Instrument.
Dazu kommt, das Alimena mit 1,50 Meter nachgerade winzig ist. Das spielt für die Qualität ihrer Darbietung natürlich keine
Rolle: Ein bekannter Kollege sagt von ihr, sie könne ein Haus umpusten. Aber wenn Sie sie sehen würden, bevor sie ansetzt,
dann würden Sie diese Kraft vermutlich nicht mehr wahrnehmen, denn Ihr visueller Eindruck würde das Gehörte überdecken. Es
gibt nur eine Möglichkeit, ein gutes Spontanurteil über Sylvia Alimenas musikalische Qualitäten zu fällen: Man lässt sie hinter
einem Wandschirm spielen.
Ein kleines Wunder
Von dieser Revolution in der Welt der klassischen Musik können wir etwas Wichtiges lernen. Warum haben Dirigenten so lange
Zeit nicht erkannt, wie subjektiv ihre Spontanurteile waren? Weil wir mit unserer Fähigkeit des schnellen Denkens oft allzu
sorglos umgehen. Wir wissen nicht, wie wir zu unseren ersten Eindrücken kommen oder was sie genau bedeuten, also verstehen
wir auch oft nicht, wie unzuverlässig sie sind. Wenn wir unsere Fähigkeit des schnelles Denkens wirklich ernst nehmen wollen,
dann müssen wir erkennen, durch welch subtile
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