Blink! - die Macht des Moments
vor. Ihnen stand jedes Spielzeug aus der
großen Kiste des Pentagons zur Verfügung.
|110| »Wir haben uns angesehen, wie wir auf die Umwelt unseres Gegners einwirken können, und zwar auf der ganzen Bandbreite der
Möglichkeiten, sei es politisch, militärisch, gesellschaftlich, kulturell oder institutionell. Wir haben jeden dieser Aspekte
ausführlich untersucht«, erklärte William F. Kernan, Kommandant des blauen Teams, auf einer Pressekonferenz nach dem Ende
des Manövers. »Durch Erkenntnisse unserer Geheimdienste wissen wir, wie wir ein Land außer Gefecht setzen können. Es gibt
Möglichkeiten, Kommunikation zu unterbinden, die Menschen eines Landes in ihrem Widerstand zu unterstützen, den Willen einer
Bevölkerung zu beeinflussen und bestehende Machtnetzwerke zu zerschlagen.« Vor zwei Jahrhunderten hatte Napoleon gesagt: »Ein
General weiß nichts mit Sicherheit, er sieht seinen Feind nie deutlich vor sich und weiß nie genau, wo er sich befindet.«
Der Krieg fand stets im Nebel statt. Millennium Challenge sollte zeigen, dass moderne Satellitentechnologie und Supercomputer
diesen Nebel lüften können.
Aus diesem Grund war die Wahl Paul van Ripers zum Kommandanten des gegnerischen Teams geradezu genial, denn van Riper verkörperte
in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil dieser Position. Er glaubte nicht daran, dass man den Nebel des Krieges lüften könnte.
In der Bibliothek im zweiten Stock seines Hauses in Virginia stehen meterweise Bücher über Komplexitätstheorie und Militärstrategie.
Seine eigene Erfahrung in Vietnam und die Lektüre des deutschen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz haben ihn zu der Überzeugung
geführt, dass Krieg immer unvorhersehbar, schmutzig und nicht-linear verläuft. In den achtziger Jahren nahm van Riper oft
an Übungen teil und musste die analytischen und systematischen Entscheidungsinstrumente einsetzen, die das JFCOM erproben
wollte. Er konnte diese Systeme nicht ausstehen. Sie waren viel zu unflexibel. »Ich erinnere mich an ein Manöver«, erzählt
er, »als wir mitten in einer Übung waren. Plötzlich sagte der Kommandeur der Division: ›Halt. Schauen wir mal, wo der Feind
steht.‹ Wir hatten schon acht oder neun Stunden |111| mit der Planung zugebracht, und der Feind hatte sich schon in unseren Rücken geschlichen. Die Situation, für die wir geplant
hatten, war bereits eine völlig andere.« Man kann nicht einmal sagen, dass van Riper ein Feind rationaler Analyse ist. Nur
mitten in einem Gefecht hielt er sie für unangebracht, weil die Unwägbarkeiten des Krieges und der Zeitdruck es unmöglich
machen, in aller Ruhe und Sorgfalt sämtliche Optionen zu prüfen und gegeneinander abzuwägen.
In den frühen neunziger Jahren, als van Riper Leiter der Universität des Marine Corps in Quantico im US-Bundesstaat Virginia
war, freundete er sich mit einem Mann namens Gary Klein an. Klein war Chef einer Beraterfirma in Ohio und hatte ein Buch geschrieben
mit dem Titel
Natürliche Entscheidungsprozesse:
Über die »Quellen der Macht«, die unsere Entscheidungen lenken
.
Für diesen Klassiker der Entscheidungstheorie hatte Klein Krankenschwestern, Feuerwehrleute und andere Menschen interviewt,
die unter großem Druck Entscheidungen fällen. Eine seiner Schlussfolgerungen war, dass auch Experten in Entscheidungssituationen
nicht logisch vorgehen und alle möglichen Optionen gegeneinander abwägen. So lernt man das zwar in der Theorie, aber in der
Praxis würde dieser Entscheidungsprozess zu lange dauern. Kleins Krankenschwestern und Feuerwehrleute kamen fast augenblicklich
zur Einschätzung einer Lage und
handelten,
wobei sie auf ihre Erfahrung und Intuition zurückgriffen und die Situation grob im Kopf durchspielten. Van Riper war der Ansicht,
dass dies auch sehr zutreffend beschrieb, wie Menschen im Gefecht Entscheidungen treffen.
Einmal flogen van Riper und Klein mit einem guten Dutzend Marine-Corps-Generälen an die New Yorker Warenbörse, um das Handelsparkett
zu besuchen. Van Riper erzählt, er habe noch nie im Leben so einen Aufruhr erlebt, außer in einer Kommandozentrale im Krieg.
Er war sich sicher, hier etwas lernen zu können. Nach Handelsschluss gingen die Generäle aufs Parkett und spielten den Handel
nach. Dann luden sie eine Gruppe von |112| Börsenhändlern auf die andere Seite des New Yorker Hafens in den Militärstützpunkt Governor’s Island ein und spielten auf
Computern
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