Blink! - die Macht des Moments
Zeitpunkt stockt die Handlung, keiner der Darsteller stolpert oder verliert den
Faden. Die Geschichte entwickelt sich, als ob die Schauspieler tagelang geprobt hätten. Es kommt vor, dass das Gesagte nicht
hundertprozentig passt, die meiste Zeit aber ist es zutiefst komisch und das Publikum grölt vor Lachen. Es ist ein von Anfang
bis Ende absolut fesselnder Theaterabend. Auf der Bühne stehen acht Menschen, die ohne Netz und doppelten Boden vor unseren
Augen ein einmaliges Theaterstück erfinden.
Improvisationstheater ist ein wunderbares Beispiel für das schnelle Denken, um das es in
Blink!
geht. Auf der Bühne treffen Menschen in Sekundenschnelle hochkomplexe Entscheidungen, ohne dass sie ein Drehbuch dafür hätten.
Das macht Improvisationstheater spannend, und das macht es zugleich auch irgendwie unheimlich. Stellen Sie sich vor, Sie sollten
eine Rolle in einem Theaterstück übernehmen und hätten einen Monat Zeit, Ihren Part auswendig zu lernen – wahrscheinlich würden
Sie dankend ablehnen. Ich an Ihrer Stelle hätte jedenfalls Angst, Lampenfieber zu bekommen, den Text zu vergessen oder vom
Publikum ausgebuht zu werden. Dabei hat ein konventionelles Stück wenigstens |117| noch eine vorgegebene Handlung, es gibt einen Regisseur, der alle Beteiligten anweist, was sie in welchem Moment zu tun haben,
und Sie haben Zeit, jedes Wort und jede Bewegung vorher einzustudieren. Nun stellen Sie sich aber einmal vor, Sie sollen
ohne
Drehbuch
auf die Bühne steigen und ohne die geringste Ahnung, welche Rolle Sie spielen und was Sie sagen sollen – und obendrein sollen
Sie auch noch witzig sein. Ich für meinen Teil würde lieber barfuß über glühende Kohlen laufen. Was vielen von uns am Improvisationstheater
so unheimlich erscheint, ist die Tatsache, dass alles völlig chaotisch und zufällig wirkt. Es sieht so aus, als müssten Sie
jedes Wort, jede Bewegung an Ort und Stelle erfinden.
In Wahrheit ist Improvisationstheater jedoch alles andere als chaotisch und willkürlich. Die Schauspieler von »Mother« sind
keineswegs so verrückte, impulsive und hyperkreative Komiker, für die man sie vielleicht halten mag. In der Unterhaltung wirken
sie ernst. Sie treffen sich einmal pro Woche zu einer mehrstündigen Probe, und nach jeder Aufführung versammeln sie sich hinter
der Bühne, um die einzelnen Darbietungen zu analysieren. Vielleicht fragen Sie sich, wie man überhaupt für Improvisationstheater
proben kann. Die Antwort ist einfach: Diese Kunstform hat wie jede andere ihre Regeln, an die sich jeder einzelne auf der
Bühne halten muss. »Unsere Arbeit hat große Ähnlichkeit mit Basketball«, sagt einer der Darsteller von »Mother«, und der Vergleich
trifft es sehr gut. Basketball ist ein komplexes, schnelles Spiel, in dem Spieler innerhalb von Sekundenbruchteilen spontane
Entscheidungen treffen müssen. Diese Spontaneität ist allerdings nur möglich, weil sich jeder der Spieler zuvor Tag für Tag
eintönigen und durchstrukturierten Übungen wie Werfen, Passen und Dribbeln unterzieht, wieder und wieder Videoaufzeichnungen
von Partien analysiert und im Spiel eine genau festgelegte Rolle übernimmt. Improvisationstheater funktioniert genauso, und
damit lässt sich auch der Verlauf von Millennium Challenge erklären:
Spontaneität hat nichts mit Zufall zu tun.
Van Riper und sein rotes Team waren nicht deshalb erfolgreich, weil sie intelligenter |118| waren als ihre Gegenspieler vom blauen Team oder weil sie mehr Glück gehabt hätten. Die Qualität einer Entscheidung, die unter
hohem Druck und sich schnell verändernden Bedingungen gefällt wird, hängt mit den Regeln, dem Training und der Vorbereitung
zusammen.
Eine der wichtigsten Regeln des Improvisationstheaters ist die Zustimmung: Es wird ungleich leichter, gemeinsam eine Geschichte
zu entwickeln, wenn jeder der Darsteller alles hinnimmt, was ihm widerfährt. Keith Johnstone, einer der Erfinder des Improvisationstheaters,
schreibt dazu in seinem Buch
Improvisation und Theater
:
»Legen Sie das Buch einen Augenblick beiseite und stellen sich Dinge vor, die Ihnen oder Ihren Lieben auf keinen Fall zustoßen
sollten. Schon haben Sie eine Geschichte, die es wert ist, auf die Bühne oder auf die Leinwand gebracht zu werden. Niemand
von uns will ein Restaurant betreten und eine Torte ins Gesicht bekommen, niemand will mit ansehen, wie eine ältere Dame im
Rollstuhl auf eine Klippe zurast – aber wir bezahlen
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