Blink! - die Macht des Moments
Grund des Meeres. Wäre Millennium Challenge ein echter Krieg gewesen, dann hätten 20 000
Soldaten den Tod gefunden, ehe ihre Seite auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert hätte.
»Als Kommandant des roten Teams habe ich in meinem Hauptquartier gesessen und mich erinnert, dass die Blauen eine Strategie
der vorbeugenden Schläge angekündigt hatten«, sagt van Riper. »Also habe ich zuerst losgeschlagen. Wir haben berechnet, mit
wie vielen Cruise Missiles jedes Schiff fertig werden könnte, und haben einfach ein paar mehr abgeschossen, aus allen möglichen
Richtungen, vom Meer, vom Festland, aus der Luft. Dabei haben wir vermutlich die Hälfte ihrer Schiffe versenkt. Wir konnten
uns die Ziele aussuchen. Den Flugzeugträger, die größten Kreuzer. Es gab sechs Landungsschiffe, davon haben wir fünf auf den
Grund geschickt.«
In den kommenden Wochen und Monaten gaben Analysten des JFCOM die verschiedensten Erklärungen ab, was genau an diesem Tag
im Juli passiert war. Die einen beteuerten, dieses Ergebnis habe nur durch die besonderen Eigenheit von Strategiespielen zustande
kommen können. Die anderen erläuterten, dass die Schiffe in einem wirklichen Kriegseinsatz niemals derart ungeschützt gewesen
wären. Keine dieser Erklärungen konnte jedoch darüber hinwegtäuschen, dass das blaue Team einen vernichtenden Verlust hatte
hinnehmen müssen. Dabei hatte der Schurkengeneral nur das getan, was Schurkengeneräle nun einmal tun: Er hatte sich zur Wehr
gesetzt. Doch aus irgendwelchen Gründen hatte er das blaue Team damit auf dem falschen Fuß erwischt. In gewisser Hinsicht
hat dieses Versagen große Ähnlichkeit mit der Panne |115| des Getty Museums bei der Untersuchung des Kouros: Die blauen Generäle hatten eine gründliche und methodisch strenge Analyse
durchgeführt, die jede Eventualität hätte einschließen sollen, und trotzdem hatten sie dabei etwas übersehen, was sie instinktiv
hätten erkennen müssen. Die Fähigkeiten des roten Teams, rasch zu denken und zu handeln, waren intakt – die des blauen Teams
nicht. Wie konnte das passieren?
Die Struktur der Spontaneität
Samstag Abend im Untergeschoss eines Einkaufszentrums im Manhattaner Stadtteil West Side. In einem kleinen Theater betritt
eine Improvisationsgruppe namens »Mother« die Bühne. Es ist ein Abend kurz nach Thanksgiving, es hat begonnen zu schneien,
doch der Zuschauerraum ist gut gefüllt. Die Truppe besteht aus acht Schauspielern, drei Frauen und fünf Männern, alle zwischen
20 und 40 Jahren alt. Die Bühnendekoration beschränkt sich auf ein paar Klappstühle. An diesem Abend steht ein Stück auf dem
Programm, das in der Welt des Improvisationstheaters unter dem Namen »Harold« bekannt ist. Dabei betreten die Darsteller die
Bühne ohne auch nur die geringste Vorstellung, welche Rolle oder welche Handlung sie spielen: Auf einen Zuruf aus dem Publikum
entwickeln sie ohne ein einziges Wort der Absprache ein dreißigminütiges Stück.
Einer der Schauspieler bittet das Publikum um einen Vorschlag. »Roboter«, ruft jemand aus dem Dunkel des Zuschauerraums. Im
Improvisationstheater wird kaum je ein Vorschlag wörtlich genommen. Jessica, die Darstellerin, die mit der Handlung beginnt,
erzählte später, dass sie bei dem Wort »Roboter« als erstes an Gefühlskälte denken musste und daran, wie Technologie zwischenmenschliche
Beziehungen beeinflusst. Kaum ist ihr das in den Sinn gekommen, da betritt sie auch schon die Bühne und tut so, |116| als würde sie die Rechnung ihres Kabelfernsehanbieters studieren. Auf der Bühne sitzt bereits ein weiterer Darsteller auf
einem der Klappstühle und hat ihr den Rücken zugewandt. Sie beginnen eine Unterhaltung. Keiner der beiden weiß in diesem Moment,
welche Rolle der andere spielt. Doch nach und nach stellt sich heraus, dass die beiden verheiratet sind und die Frau erschrocken
ist, weil sie auf der aufgeschlüsselten Rechnung Pornofilme entdeckt hat. Der Mann schiebt die Schuld auf ihren minderjährigen
Sohn. Nach einem hitzigen Hin und Her rennen zwei weitere Darsteller auf die Bühne und nehmen neue Rollen in derselben Geschichte
ein. Einer der beiden ist ein Psychiater, der der Familie aus der Krise helfen soll. Etwas später kommt ein fünfter Schauspieler
auf die Bühne, lässt sich ärgerlich in einen Stuhl fallen und motzt: »Ich soll etwas auslöffeln, was ich gar nicht eingebrockt
habe.« Es ist der Sohn des Paares. Zu keinem
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