Blink! - die Macht des Moments
die Patienten
mit Brustschmerzen zu versorgen. Wir hatten dauernd Auseinandersetzungen darüber, welcher Patient was benötigt.« Zu diesem
Zeitpunkt hatte das Cook County Hospital neben den acht Betten zur intensiven Versorgung von Herzpatienten noch zwölf weitere |134| zur Standardversorgung, die von Krankenschwestern statt von Ärzten betreut wurden und mit rund 1 000 US-Dollar pro Nacht nur
die Hälfte der Kosten verursachten. Doch das reichte nicht aus. Also wurde eine Beobachtungsstation eingerichtet, in die Patienten
für einen halben Tag eingewiesen werden konnten und eine Grundversorgung erhielten. »Wir haben diese dritte Abteilung eröffnet
und uns gesagt: ›Schauen wir uns mal an, was das bringt.‹ Aber es hat nicht lange gedauert, und schon sind die Streitereien
losgegangen, welcher Patient auf die Beobachtungsstation kommt«, erzählt Reilly weiter. »Ich habe deswegen mitten in der Nacht
Anrufe von Ärzten bekommen. Wir hatten einfach keine standardisierten, rationalen Grundlagen für diese Entscheidung.«
Brendan Reilly ist ein groß gewachsener Mann mit dem drahtigen Körper eines Joggers. Er kommt aus New York City und hat eine
klassische Jesuitenschule genossen. Auf der Regis Highschool hatte er Unterricht in Latein und Griechisch, auf der Fordham
University las er philosophische Texte, von den antiken Denkern bis zu Wittgenstein und Heidegger. Er hatte darüber nachgedacht,
eine akademische Laufbahn als Philosoph einzuschlagen, ehe er sich schließlich für Medizin entschied. Als Professor an der
Universität Dartmouth stellte er fest, dass es für die ganz alltäglichen Probleme wie Schwindel, Kopfschmerzen und Magendruck,
mit denen Hausärzte ständig konfrontiert sind, einfach keine Systematik gibt. Also schrieb er an seinen freien Tagen und Wochenenden
ein achthundertseitiges Lehrbuch, in dem er den neuesten Kenntnisstand zur Mehrzahl aller Probleme zusammenstellte, die einem
Allgemeinarzt in der täglichen Praxis begegnen können. »Reilly verfolgt ständig irgendein Thema, sei es Philosophie, schottische
Lyrik oder Medizingeschichte«, berichtet sein Freund und Kollege Arthur Evans. »Er liest immer fünf Bücher auf einmal. In
Dartmouth hat er sich eine Auszeit genommen, um einen Roman zu schreiben.«
Jemand wie Reilly hätte sicher auch eine Stelle an der Ostküste |135| bekommen und in einem klimatisierten Büro einen Aufsatz nach dem anderen zu diesem oder jenem Forschungsthema verfassen können.
Aber ihn faszinierte das Cook County Hospital. Ein Krankenhaus, das die Ärmsten und Bedürftigsten versorgt, zieht Ärzte und
Schwestern an, die sich um genau diese Menschen kümmern wollen – und zu diesen gehörte Brendan Reilly. Zugleich eröffnet genau
diese Armut Möglichkeiten, neue Wege zu gehen und radikale Ideen auszuprobieren. Für jemanden, der etwas verändern will, ist
das ein geradezu idealer Ort.
Nach den ersten Erfahrungen in der Herzstation begann Reilly, die Arbeiten eines Kardiologen namens Lee Goldman zu lesen.
In den Siebzigern hatte Goldman mit Mathematikern zusammengearbeitet, die statistische Regeln für das Verhalten subatomarer
Teilchen entwickelten. Goldman interessierte sich zwar nicht sonderlich für Physik, er kam jedoch auf den Gedanken, dass man
einige dieser statistischen Erkenntnisse auch verwenden könnte, um festzustellen, ob jemand tatsächlich einen Herzinfarkt
erlitten hatte. Also fütterte er seinen Computer mit Hunderten von Fällen, um festzustellen, welche Symptome auf einen Herzinfarkt
schließen ließen und welche nicht. Daraus entwickelte er einen Algorithmus, von dem er glaubte, dass er das Problem der üblichen
Rätselraterei bei Brustschmerzen lösen würde. Er folgerte, dass Ärzte neben den Ergebnissen des EKG vor allem drei Risikofaktoren
ansehen sollten: (1) Leidet der Patient an einer instabilen Angina? (2) Hat der Patient Flüssigkeit in der Lunge? (3) Liegt
der systolische Blutdruck (also der Spitzendruck) des Patienten unter 100?
Goldman entwickelte einen Entscheidungsbaum, der bei jeder Kombination dieser drei Risikofaktoren eine Behandlungsmethode
vorschlug. Er empfahl zum Beispiel, dass ein Patient mit einem normalen EKG, bei dem alle drei Risikofaktoren positiv sind,
in die Intensivstation aufgenommen werden sollte. Ein Patient, dessen EKG eine akute Ischämie (Blutleere) anzeigte, der aber
keinen der drei Risikofaktoren aufwies, sollte zur kurzzeitigen |136|
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