Blink! - die Macht des Moments
er zwei weitere Seiten über die Jugend und das frühe Erwachsenenalter hinzu. Schließlich versorgte er
die Psychologen mit einer detaillierten Darstellung der Zeit in der Armee und nach der Rückkehr aus dem Krieg. Nach jeder
Phase sollten die Psychologen 25 Multiple-Choice-Fragen zu Joseph Kidd beantworten. Oskamp stellte fest, dass die Psychologen
sich in ihrem Urteil umso sicherer fühlten, je mehr Informationen sie erhielten. Aber er stellte auch fest, dass das Urteil
damit keineswegs richtiger wurde. Mit jeder neuen Runde veränderten die Psychologen neun oder zehn ihrer Antworten auf den
alten Fragebögen, aber insgesamt hatten sie im Durchschnitt nicht mehr als 30 Prozent richtiger Antworten.
»Je mehr Informationen sie bekamen,« schloss Oskamp, »desto sicherer fühlten sie sich, doch dieses Gefühl der Sicherheit stand
in keinerlei Zusammenhang mit der Richtigkeit ihrer Diagnosen.« Den Ärzten in der Notaufnahme ergeht es nicht anders. Sie
sammeln und bewerten weit mehr Informationen, als sie benötigen, weil sie sich dadurch in ihrem Urteil sicherer fühlen. Und
wenn das Leben eines Patienten auf dem Spiel steht, bedeutet ihnen diese Sicherheit viel. Ironischerweise ist es aber genau
dieses Bedürfnis, auf Nummer Sicher zu gehen, das die Richtigkeit der Entscheidung gefährdet. Die zusätzliche Information
fließt in die ohnehin |141| schon komplizierte Gleichung ein, die sie in ihrem Kopf erstellen, und sorgt für mehr Verwirrung statt für weniger.
Brendan Reilly und seinem Team im Cook County Hospital ging es vereinfacht gesagt darum, der Spontaneität in der Notaufnahme
eine feste Struktur zu verleihen. Der Algorithmus ist eine Regel, die Ärzte davor schützen soll, von einem Zuviel an Informationen
überfordert zu werden – so wie die Regel, jedem Vorschlag zuzustimmen, die Darsteller im Improvisationstheater davor schützt,
auf der Bühne ins Stocken zu geraten. Der Algorithmus hält den Ärzten den Rücken frei, sich um all die anderen Fragen zu kümmern,
die in der Hitze des Gefechts ebenfalls beantwortet sein wollen: Wenn der Patient keinen Herzinfarkt hat, was hat er
dann?
Soll ich mich weiter um diesen Patienten kümmern, oder kann ich einen anderen Patienten versorgen, der möglicherweise ein
ernsteres Problem hat? Wie spreche ich mit ihm? Was benötigt dieser Mensch von mir, um sich besser zu fühlen?
»Brendan ist sehr daran gelegen, dass die Ärzte und das Pflegepersonal im Haus sich Zeit nehmen für die Patienten, ihnen zuhören
und sie sorgfältig und gründlich zu untersuchen – alles Fähigkeiten, die im Studium vernachlässigt wurden«, erklärt Evans.
»Er legt großen Wert darauf, dass diese Tätigkeiten ernst genommen werden und ein echter Kontakt zu dem Patienten entsteht.
Er ist der Ansicht, dass es unmöglich ist, sich um einen Menschen zu kümmern, wenn man nichts über dessen Lebensumstände weiß
– sein Zuhause, seinen Stadtteil, seine Familie. Er glaubt, dass gesellschaftliche und psychologische Aspekte eine große Rolle
bei der Entstehung von Krankheiten spielen und dass sie von der Medizin bislang viel zu sehr vernachlässigt wurden.« Reilly
ist der Überzeugung, dass ein Arzt den Patienten
als Menschen
verstehen muss, und wenn Sie der Ansicht sind, dass Empathie und Respekt in der Arzt-Patient-Beziehung zentral sind, dann
müssen Sie Raum dafür schaffen. Und um das zu bewerkstelligen, muss an anderer Stelle der Entscheidungsstress reduziert werden.
|142| Daraus können wir zwei wichtige Dinge lernen. Erstens glaube ich, dass wirklich gute Entscheidungen auf einer ausgewogenen
Mischung von zielgerichtetem Denken und Intuition beruhen. Bob Golomb ist deshalb ein so guter Verkäufer, weil er es versteht,
in einem bestimmten Moment die Absichten, Bedürfnisse und Empfindungen seiner Kunden zu erspüren. Aber er ist auch deshalb
ein guter Verkäufer, weil er weiß, wann er seiner Intuition misstrauen und einer Spontanentscheidung widerstehen muss. Die
Ärzte von Cook County Hospital finden deshalb im Alltagsstress der Notaufnahme noch Zeit, auf ihre Patienten einzugehen, weil
ihnen Lee Goldman mit seiner sorgfältigen Auswertung aller verfügbaren Daten ein Gutteil der Diagnosearbeit abnimmt. Zielgerichtetes
Denken ist eine wunderbare Sache, wenn wir alle Zeit der Welt, einen Computer und eine klar definierte Aufgabe haben. Und
die Ergebnisse dieses Denkprozesses können wiederum Grundlage für schnelle
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