Blink! - die Macht des Moments
Beobachtung dabehalten werden. Ein Patient schließlich, dessen EKG abnorm war und der einen oder zwei weitere Risikofaktoren
aufwies, sollte in die Herzstation aufgenommen werden. Und so weiter.
Lee Goldman feilte jahrelang an seinem Entscheidungsmodell. Doch am Ende jedes Artikels, den er zu diesem Thema veröffentlichte,
beklagte er, wie viel Forschungsarbeit noch nötig sei, ehe man sein Modell in der klinischen Praxis einsetzen könne. Die Jahre
gingen ins Land, ohne dass jemand bereit gewesen wäre, das Modell auszuprobieren – weder die berühmte Universitätsklinik von
Harvard, an der Goldman seine Arbeit begonnen hatte, noch die ähnlich renommierte Klinik der Universität Kalifornien in San
Francisco, an der Goldman seine Forschungen abschloss. Obwohl die Ergebnisse methodisch überzeugten, schien niemand glauben
zu wollen, dass eine mathematische Formel eine bessere Diagnose stellen könnte als ein erfahrener Arzt.
Ironischerweise kam ein großer Teil der Fördermittel, mit denen Goldman seine Arbeiten finanzierte, nicht von medizinischen
Forschungsgesellschaften, sondern von der US-Marine. Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, dass ein Forscher,
der lebensrettende Diagnosen entwickelt, mit denen die Qualität der Gesundheitsfürsorge verbessert und Milliarden von Dollar
gespart werden können, nicht von Krankenhäusern, sondern vom Pentagon gefördert wird. Auf den zweiten Blick leuchtet es jedoch
ein: Wenn ein U-Boot in feindlichen Gewässern auf Tauchstation ist und einer der Matrosen plötzlich über Schmerzen in der
Brust klagt, dann sollte man sehr genau wissen, ob es nötig ist aufzutauchen, um ihn möglichst schnell in ein Krankenhaus
zu bringen, oder ob man unter Wasser bleiben kann und den Mann mit ein paar Pillen ins Bett schickt.
Anders als seine Kollegen in der Medizinerzunft hatte Brendan Reilly jedoch keine Bedenken, Goldmans Erkenntnisse in die Praxis
umzusetzen. Er hatte ein handfestes Problem, und das galt es zu lösen. Also stellte er den Ärzten in der Notaufnahme und |137| der Herzstation des Cook County Hospital Goldmans Algorithmen vor und kündigte an, er wolle einen Probelauf unternehmen. In
den ersten Monaten sollten die Ärzte ihre üblichen Diagnosemethoden und Goldmans Entscheidungsmodell nebeneinander anwenden.
Nach dem Ende der Behandlung sollten die Diagnose und die Ergebnisse der beiden Herangehensweisen verglichen werden. Zwei
Jahre lang wurden Daten gesammelt, und am Ende war das Ergebnis eindeutig: Wenn es darum ging, Patienten zu erkennen, die
zwar über Brustschmerzen klagten, aber keinen Herzinfarkt hatten, war Goldmans Algorithmus um 70 Prozent besser. Aber nicht
nur das: Goldmans System war auch noch sicherer. Mit ihren früheren Analysemethoden erkannten Ärzte zwischen 75 und 89 Prozent
der tatsächlichen Herzinfarkte, mit Goldmans Algorithmus lag diese Quote jedoch bei über 95 Prozent. Dieses Ergebnis war genau
das, was Reilly sich erhofft hatte, um die Arbeit in der Notaufnahme umzustrukturieren. Im Jahr 2001 war das Cook County Hospital
das erste in den USA, das zur Diagnose von Patienten mit Schmerzen in der Brust ausschließlich Goldmans Algorithmus verwendete.
Wenn Sie heute in die Notaufnahme kommen, dann hängt dort an der Wand eine Kopie des Entscheidungsbaumes für Herzinfarkte.
Wenn weniger mehr ist
Warum ist das Experiment des Cook County Hospital so wichtig? Weil wir wie selbstverständlich davon ausgehen, dass eine Entscheidung
umso besser ist, je mehr Informationen derjenige hat, der sie trifft. Wenn wir zu einem Facharzt gehen und dieser uns sagt,
dass er weitere Untersuchungen vornehmen möchte, um sich ein genaueres Bild zu verschaffen, dann hätten vermutlich die wenigsten
von uns etwas dagegen. In Millennium Challenge nahm das blaue Team ganz selbstverständlich an, dass ihm der |138| Informationsvorsprung gegenüber dem roten Team einen kriegsentscheidenden Vorteil verschaffen würde. Das blaue Team ging logischer
und systematischer vor, und vor allem wusste es mehr über seinen Gegner als van Ripers Team. Deshalb fühlte es sich unverwundbar.
Der Goldman-Algorithmus spricht jedoch eine andere Sprache. Zusätzliche Informationen bedeuten keineswegs zusätzliche Vorteile.
Um das Grundmuster eines komplizierten Zusammenhangs zu erkennen, reichen ein paar Eckdaten völlig aus: Es genügt, einen Patienten
auf EKG, Blutdruck, Lungengeräusche und eine instabile Angina
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