Blink! - die Macht des Moments
zu untersuchen.
Das ist eine radikale Aussage. Stellen Sie sich vor, ein Mann kommt in die Notaufnahme und klagt über immer wiederkehrende
Schmerzen in der linken Brustseite, die zwischen fünf Minuten und drei Stunden anhalten und vor allem auftreten, wenn er Treppen
steigt. Lungengeräusche, Herztöne und EKG sind normal, und sein systolischer Blutdruck liegt bei 165. Damit liegen keine dringenden
Symptome vor. Aber der Mann ist Mitte 60. Er arbeitet in einer Führungsposition. Er steht ständig unter Druck. Er raucht.
Er treibt keinen Sport. Er leidet seit Jahren unter hohem Blutdruck. Er hat Übergewicht. Vor zwei Jahren hatte er eine Herzoperation.
Er schwitzt. Sollten dieser Mann nicht sofort in die Herzstation eingewiesen werden? Doch Goldmans Algorithmus sagt nein.
Diese zusätzlichen Faktoren werden langfristig sicher eine Rolle spielen: Die körperliche Verfassung des Patienten, seine
Ernährung und seine Lebensgewohnheiten machen es relativ wahrscheinlich, dass er in einigen Jahren eine Herzerkrankung bekommt.
Es kann sogar sein, dass ihm aufgrund des äußerst subtilen Zusammenspiels dieser Faktoren in den nächsten 72 Stunden etwas
passiert. Goldmans Algorithmus zeigt uns jedoch, dass der Einfluss dieser Faktoren auf die momentane Verfassung dieses Mannes
extrem gering ist und der Arzt ohne ihre Kenntnis eine korrekte Diagnose fällen kann. Zusätzliche Information ist nicht nur
nutzlos, sondern sogar schädlich, weil sie das Problem verschleiert. Was Ärzte verwirrt, wenn sie einen Herzinfarkt diagnostizieren |139| sollen – und was die Generäle des blauen Teams verwirrte, als sie vor der Küste des roten Teams anlandeten –, ist ein Zuviel
an Information.
Dieses Problem, zu viel Information in eine Entscheidung mit einbeziehen zu müssen, stellt sich auch dann, wenn Ärzte einen
tatsächlichen Herzinfarkt nicht erkennen. Außerdem lässt sich feststellen, dass Ärzte diesen Fehler eher bei Frauen und Angehörigen
von Minderheiten machen. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass Geschlecht und Hautfarbe bei Herzproblemen durchaus eine Rolle spielen
können: Schwarze haben ein anderes Risikoprofil als Weiße, und bei Frauen treten Herzinfarkte in der Regel erst in höherem
Alter auf. Das Problem entsteht dann, wenn Ärzte versuchen, diese zusätzliche Information in die Beurteilung des Patienten
mit einfließen zu lassen – damit stellen sie sich nur vor eine noch schwierigere Entscheidung. Ärzte wären in jedem Fall besser
bedient, wenn sie
weniger
über ihre Patienten wüssten – wenn sie also in diesem Fall keine Informationen darüber hätten, ob ihr Patient schwarz oder
weiß, männlich oder weiblich ist.
Eigentlich ist es keine sonderlich große Überraschung, dass es Goldman mit seinem Entscheidungsmodell so schwer hat, von Medizinerkollegen
ernst genommen zu werden. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, dass wir zu besseren Ergebnissen kommen, wenn wir
Informationen nicht berücksichtigen, die uns relevant erscheinen. »Genau dafür wird der Entscheidungsalgorithmus immer wieder
angegriffen«, sagt Reilly. »Genau dieser Punkt macht Ärzte misstrauisch. Sie sagen: ›Die Diagnose muss doch mehr beinhalten
als einen Blick auf das EKG und diese paar Fragen. Wie kann es sein, dass Diabetes keine Rolle spielt? Das Alter? Die Vorgeschichte?‹
Das sind verständliche Fragen. Sie schauen sich das Baumdiagramm an und sagen: ›Das ist doch Quatsch, so bekommt man doch
keine vernünftige Diagnose.‹« Arthur Evans bestätigt, dass Mediziner immer davon ausgehen, dass Entscheidungen, in denen es
um Leben und Tod geht, automatisch auch komplizierte Entscheidungen sein müssen. »Ärzte |140| halten es für banal, sich an Richtlinien zu halten«, sagt er. »Es ist viel befriedigender, selbst eine Entscheidung zu fällen.
Jeder kann einem Algorithmus folgen. Aber Ärzte neigen dazu zu sagen: ›Das kann ich besser. Es kann gar nicht so simpel sein.
Wofür habe ich denn so lange studiert?‹« Es handelt sich also um ein emotionales Problem.
Vor vielen Jahren führte der Psychologe Stuart Oskamp eine berühmt gewordene Studie durch, in der er eine Gruppe von Psychologen
bat, den Fall eines 29-jährigen Kriegsveteranen namens Joseph Kidd zu beurteilen. In der ersten Phase gab er den Psychologen
nur einige wenige Hinweise zur Person. Dann erhielten sie anderthalb eng beschriebene Seiten über dessen Kindheit. In der
dritten Phase fügte
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