Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blink! - die Macht des Moments

Titel: Blink! - die Macht des Moments Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
zu untersuchen.
    Das ist eine radikale Aussage. Stellen Sie sich vor, ein Mann kommt in die Notaufnahme und klagt über immer wiederkehrende
     Schmerzen in der linken Brustseite, die zwischen fünf Minuten und drei Stunden anhalten und vor allem auftreten, wenn er Treppen
     steigt. Lungengeräusche, Herztöne und EKG sind normal, und sein systolischer Blutdruck liegt bei 165. Damit liegen keine dringenden
     Symptome vor. Aber der Mann ist Mitte 60. Er arbeitet in einer Führungsposition. Er steht ständig unter Druck. Er raucht.
     Er treibt keinen Sport. Er leidet seit Jahren unter hohem Blutdruck. Er hat Übergewicht. Vor zwei Jahren hatte er eine Herzoperation.
     Er schwitzt. Sollten dieser Mann nicht sofort in die Herzstation eingewiesen werden? Doch Goldmans Algorithmus sagt nein.
     Diese zusätzlichen Faktoren werden langfristig sicher eine Rolle spielen: Die körperliche Verfassung des Patienten, seine
     Ernährung und seine Lebensgewohnheiten machen es relativ wahrscheinlich, dass er in einigen Jahren eine Herzerkrankung bekommt.
     Es kann sogar sein, dass ihm aufgrund des äußerst subtilen Zusammenspiels dieser Faktoren in den nächsten 72 Stunden etwas
     passiert. Goldmans Algorithmus zeigt uns jedoch, dass der Einfluss dieser Faktoren auf die momentane Verfassung dieses Mannes
     extrem gering ist und der Arzt ohne ihre Kenntnis eine korrekte Diagnose fällen kann. Zusätzliche Information ist nicht nur
     nutzlos, sondern sogar schädlich, weil sie das Problem verschleiert. Was Ärzte verwirrt, wenn sie einen Herzinfarkt diagnostizieren |139| sollen – und was die Generäle des blauen Teams verwirrte, als sie vor der Küste des roten Teams anlandeten –, ist ein Zuviel
     an Information.
    Dieses Problem, zu viel Information in eine Entscheidung mit einbeziehen zu müssen, stellt sich auch dann, wenn Ärzte einen
     tatsächlichen Herzinfarkt nicht erkennen. Außerdem lässt sich feststellen, dass Ärzte diesen Fehler eher bei Frauen und Angehörigen
     von Minderheiten machen. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass Geschlecht und Hautfarbe bei Herzproblemen durchaus eine Rolle spielen
     können: Schwarze haben ein anderes Risikoprofil als Weiße, und bei Frauen treten Herzinfarkte in der Regel erst in höherem
     Alter auf. Das Problem entsteht dann, wenn Ärzte versuchen, diese zusätzliche Information in die Beurteilung des Patienten
     mit einfließen zu lassen – damit stellen sie sich nur vor eine noch schwierigere Entscheidung. Ärzte wären in jedem Fall besser
     bedient, wenn sie
weniger
über ihre Patienten wüssten – wenn sie also in diesem Fall keine Informationen darüber hätten, ob ihr Patient schwarz oder
     weiß, männlich oder weiblich ist.
    Eigentlich ist es keine sonderlich große Überraschung, dass es Goldman mit seinem Entscheidungsmodell so schwer hat, von Medizinerkollegen
     ernst genommen zu werden. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, dass wir zu besseren Ergebnissen kommen, wenn wir
     Informationen nicht berücksichtigen, die uns relevant erscheinen. »Genau dafür wird der Entscheidungsalgorithmus immer wieder
     angegriffen«, sagt Reilly. »Genau dieser Punkt macht Ärzte misstrauisch. Sie sagen: ›Die Diagnose muss doch mehr beinhalten
     als einen Blick auf das EKG und diese paar Fragen. Wie kann es sein, dass Diabetes keine Rolle spielt? Das Alter? Die Vorgeschichte?‹
     Das sind verständliche Fragen. Sie schauen sich das Baumdiagramm an und sagen: ›Das ist doch Quatsch, so bekommt man doch
     keine vernünftige Diagnose.‹« Arthur Evans bestätigt, dass Mediziner immer davon ausgehen, dass Entscheidungen, in denen es
     um Leben und Tod geht, automatisch auch komplizierte Entscheidungen sein müssen. »Ärzte |140| halten es für banal, sich an Richtlinien zu halten«, sagt er. »Es ist viel befriedigender, selbst eine Entscheidung zu fällen.
     Jeder kann einem Algorithmus folgen. Aber Ärzte neigen dazu zu sagen: ›Das kann ich besser. Es kann gar nicht so simpel sein.
     Wofür habe ich denn so lange studiert?‹« Es handelt sich also um ein emotionales Problem.
    Vor vielen Jahren führte der Psychologe Stuart Oskamp eine berühmt gewordene Studie durch, in der er eine Gruppe von Psychologen
     bat, den Fall eines 29-jährigen Kriegsveteranen namens Joseph Kidd zu beurteilen. In der ersten Phase gab er den Psychologen
     nur einige wenige Hinweise zur Person. Dann erhielten sie anderthalb eng beschriebene Seiten über dessen Kindheit. In der
     dritten Phase fügte

Weitere Kostenlose Bücher