Blink! - die Macht des Moments
anders, und alles was neu und anders ist, sieht in der Marktforschung immer erst einmal schlecht aus.
Die Gabe der Erfahrung
An einem sonnigen Sommertag traf ich Gail Vance Civille und Judy Heylmun zum Mittagessen, die in New Jersey eine Firma namens
Sensory Spectrum leiten. Die beiden Frauen testen Lebensmittel auf ihren Geschmack. Wenn beispielsweise die Firma Frito-Lay
eine neue Sorte Tortillachips plant, dann will sie wissen, wo sie den Prototypen einordnen soll, wie er sich von den eigenen
Chips und denen der Konkurrenz unterscheidet, oder ob vielleicht noch ein bisschen mehr Salz in die Gewürzmischung kommen
sollte. Um das herauszufinden, schickt Frito-Lay seine Chips an Gail Civille und Judy Heylmun.
Mit zwei professionellen Geschmackstestern essen zu gehen, ist ein besonderes Erlebnis. Nach langem Überlegen hatte ich mich
für ein Restaurant in Downtown Manhattan namens Le Madri entschieden. Das Madri ist eines dieser Restaurants, in denen der
Kellner fünf Minuten braucht, um die Liste der Spezialitäten des |176| Tages vorzulesen. Als ich eintraf, hatten Heylmun und Civille bereits Platz genommen. Sie hatten schon mit dem Kellner gesprochen,
und Civille zählte mir aus dem Gedächtnis die Gerichte der Tageskarte auf. Die beiden waren es offenbar gewohnt, ihr Mittagessen
mit großer Sorgfalt zusammenzustellen. Als Vorspeise wählte Heylmun zum Beispiel eine Kürbiskremsuppe mit einem Hauch Sellerie
und Zwiebeln, verfeinert mit Crème fraîche, in Speck gebratenen roten Bohnen und garniert mit Kürbiswürfeln, Salbei und gerösteten
Kürbiskernen. Civille entschied sich für einen Salat, gefolgt von einem Risotto mit Prince-Edward-Island- und Quahogmuscheln,
verfeinert mit Tintenfischtinte (im Le Madri gibt es kaum ein Gericht, das nicht mit irgendetwas »verfeinert« wäre). Nachdem
wir bestellt hatten, brachte der Kellner Helymun einen Löffel für die Suppe. Civille bat sogleich um einen zweiten Löffel.
»Wir teilen immer alles«, ließ sie ihn wissen.
»Sie sollten mal dabei sein, wenn wir mit einer Gruppe Kollegen weggehen«, sagte Heylmun. »Wir geben unsere Brottellerchen
reihum. Am Ende hat jeder nur noch die Hälfte von seinem eigenen Gericht übrig, aber jeder probiert ein bisschen von allen
anderen.«
Die Suppe kam, und die beiden begannen loszulöffeln. »Oh, die schmeckt großartig«, sagte Civille und schlug die Augen auf.
Sie gab mir ihren Löffel. »Probieren Sie mal.« Heylmun und Civille aßen mit kleinen, schnellen Häppchen, und während sie aßen,
redeten sie munter, unterbrachen sich gegenseitig wie gute alte Freunde und wechselten von einem Thema zum anderen. Sie sprachen
sehr schnell und mit Esprit. Aber das Gespräch wurde nie wichtiger als das Essen. Im Gegenteil, die beiden schienen sich nur
zu unterhalten, um die Spannung vor dem nächsten Bissen zu steigern, und wenn der nächste Bissen dann kam, nahmen ihre Gesichter
den Ausdruck äußerster Konzentration an. Heylmun und Civille testen das Essen nicht nur. Sie denken über das Essen nach. Selbst
im Schlaf träumen sie von Essen. Ein Restaurantbesuch mit den beiden ist so ähnlich, wie mit Yo-Yo Ma zu einem Cellobauer |177| zu gehen oder Giorgio Armani bei der Morgengarderobe zuzusehen. »Mein Mann sagt, mit mir gäbe es jede Minute etwas anderes
zu probieren«, sagte Civille. »Es treibt meine ganze Familie noch in den Wahnsinn. Hör auf darüber zu reden, iss einfach!
Erinnern Sie sich an die Szene in
Harry und Sally,
als die beiden im Diner sitzen? So fühle ich mich, wenn das Essen richtig gut ist.«
Der Kellner kam mit der Dessertkarte: Crème brûlée, Mango- und Schokoladensorbet oder Vanilleeis und Erdbeersafran. Heylmun
entschied sich für das Vanilleeis und das Mangosorbet, aber nicht ohne gut über die Crème brûlée nachgedacht zu haben. »An
der Crème brûlée erkennen Sie ein gutes Restaurant«, sagte sie. »Es kommt auf die Qualität der Vanille an. Es passiert oft,
dass die Crème brûlée gepanscht wird, dann schmeckt man die Qualität der einzelnen Zutaten nicht mehr.« Civille orderte einen
Espresso. Als sie ihr erstes Schlückchen nahm, verzog sie kaum merklich das Gesicht. »Ist o.k., aber nichts Besonderes«, sagte
sie. »Ihm fehlt diese ölige Textur. Ist ein bisschen zu holzig.«
Beim diesem Stichwort kam Heylmun auf das Thema »Umarbeitung« zu sprechen. Es gebe Lebensmittelfabrikanten, die übrig gebliebene
Zutaten aus der Herstellung
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