Blink! - die Macht des Moments
gewesen. Mit unserem Stuhl sind wir genau gegen
diesen Knuddeltrend angegangen.«
Im Mai 1992 begann Herman Miller mit den ersten Sitztests. Im Bundesstaat Michigan lieferten sie Prototypen des Aeron an verschiedene
Firmen und ließen deren Mitarbeiter mindestens einen halben Tag Probe sitzen. Die ersten Rückmeldungen waren alles andere
als positiv. Die Testsitzer sollten den Sitzkomfort auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten, wobei 10 die Bestnote darstellte.
Ein Stuhl sollte mindestens 7,5 erreichen, ehe ein Hersteller damit auf den Markt geht. Die ersten Prototypen des Aeron lagen
bei 4,75. Aus Spaß bastelte einer der Mitarbeiter von Herman Miller eine Zeitungsseite mit einem Bild des Stuhls und der Überschrift
»Todesstuhl: Wer sich draufsetzt, stirbt«. Dieses Bild prangte auf der Titelseite eines der ersten internen Berichte über
den Aeron. Viele der Testsitzer sahen das grazile Gestell und zweifelten, ob es überhaupt stabil genug sein würde, um sie
auszuhalten. Sie sahen das Netz und hielten es spontan für unbequem. »Es ist gar nicht so leicht, jemanden dazu zu bringen,
sich auf einen Stuhl zu setzen, der komisch aussieht«, sagt Rob Harvey, der damals bei Herman Miller stellvertretender Leiter
der Entwicklungs- und Designabteilung war. »Wenn sie einen Stuhl mit einem Drahtgestell sehen, dann haben viele Leute Angst,
dass es sie nicht aushält. Sie sind sehr vorsichtig, wenn sie sich hinsetzen. Sitzen ist eine sehr intime Angelegenheit. Der
Körper nimmt direkten Kontakt mit dem Stuhl auf, und die Leute lassen sich von ihren optischen Wahrnehmungen hinsichtlich
der Härte oder Wärme des Stuhls leiten.« Doch nachdem die Designer bei Herman Miller den Stuhl überarbeitet und die Testsitzer
ihre erste Scheu überwunden hatten, kletterten die Werte allmählich nach oben. Als Herman Miller sein Modell |170| bis zur Marktreife entwickelt hatte, lagen die Werte bei über 8. Das war ein ermutigendes Zeichen.
Weniger ermutigend war dagegen, dass die meisten der befragten Versuchspersonen den Stuhl für ein hässliches Monstrum hielten.
»Von Anfang an hinkten die Werte für die Ästhetik weit hinter den Beurteilungen des Sitzkomforts her«, sagt Bill Dowell, der
die Tests leitete. »Das war ungewöhnlich. Wir haben Tausende Menschen zu Dutzenden von Stühlen befragt, und immer bestand
dabei ein Zusammenhang zwischen Komfort und Ästhetik. Beim Aeron war das völlig anders. Für Komfort hat er eine 8 bekommen,
was absolut phänomenal ist. Die Noten für Ästhetik haben bei den ersten Prototypen bei 2 oder 3 angefangen und sind nie über
6 hinausgekommen. Wir waren erstaunt und ein bisschen besorgt. Wir hatten schon einige Erfahrungen mit dem Equa gemacht. Der
war auch nicht unumstritten, aber die meisten Menschen haben ihn wenigstens für einen schönen Stuhl gehalten.«
Gegen Ende des Jahres 1993, kurz bevor der Verkauf anlaufen sollte, stellte Herman Miller den Stuhl verschiedenen Fokusgruppen
in den gesamten USA vor. Das Unternehmen wollte sich Hinweise über Preisgestaltung und Marketing einholen und sicher gehen,
dass sie mit dem Konzept auf dem richtigen Weg waren. Sie begannen mit Architekten und Designern, die dem Stuhl sehr offen
gegenüberstanden. »Sie haben verstanden, wie radikal dieser Stuhl war«, sagte Dowell. »Selbst wenn sie ihn nicht alle schön
gefunden haben, haben sie zumindest verstanden, dass er genau so und nicht anders aussehen musste.« Dann stellte Herman Miller
den Stuhl verschiedenen Personalchefs und Ergonomieexperten vor, den Leuten also, die schließlich dafür sorgen sollten, dass
der Stuhl ein Erfolg würde.
Diesmal fiel die Reaktion geradezu frostig aus. »Sie haben die Ästhetik überhaupt nicht verstanden«, erzählt Dowell. Sie rieten
dem Hersteller, das Netz durch undurchsichtigen Stoff zu ersetzen, und vertraten die Ansicht, es sei völlig unvorstellbar,
dass Unternehmen diesen Stuhl für ihre Mitarbeiter anschaffen würden. |171| Einer der Personalchefs verglich den Stuhl mit Gartenmöbeln oder altmodischen Sitzbezügen. Ein anderer sagte, der Aeron sehe
aus, als käme er direkt von den Dreharbeiten zu
Robocop,
ein Dritter meinte gar, er mache den Eindruck, als wäre er aus Sperrmüll zusammengeschustert. »Ich erinnere mich an einen
Professor aus Stanford, der uns zwar bescheinigte, dass das Konzept funktioniert, der dann aber sagte, wir sollen ihn wieder
einladen, wenn wir einen ݊sthetisch weiter
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