Blink! - die Macht des Moments
für zahllose Missverständnisse, Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und verletzte
Gefühle. Aber weil wir diese fehlerhaften Entscheidungen so plötzlich treffen, sind sie uns ein Rätsel, und wir wissen nicht,
wie wir sie verstehen oder gar vermeiden können. In den Wochen und Monaten nach der fatalen Schießerei, als dieser Vorfall
ausführlichst in der Presse diskutiert wurde, bildeten sich zwei Lager. Die einen sagten, es handele sich um einen schrecklichen
Unfall, der aber bedauerlicherweise unvermeidlich sei, da Polizisten immer wieder in Sekundenbruchteilen und ohne ausreichende
Informationen Entscheidungen fällen müssten, in denen es um Leben und Tod geht. Zu diesem Schluss kamen auch die Geschworenen
und sprachen Boss, Carroll, McMellon und Murphy vom Vorwurf des Totschlags frei. Andere sahen in den Handlungen der Polizisten
einen eindeutigen Fall von Rassismus. In der ganzen Stadt gab es Proteste und Demonstrationen. Diallo wurde zum |193| Märtyrer. Wheeler Avenue wurde in Amadou Diallo Place umbenannt. Bruce Springsteen schreib ihm zum Andenken einen Song mit
dem Titel »41 Shots« mit dem Refrain »You can get killed just for living in your American skin« – Du kannst erschossen werden,
bloß weil du in deiner amerikanischen Haut lebst.
Doch keine der beiden Erklärungen erscheint besonders befriedigend. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die vier Polizisten
schlechte Menschen oder Rassisten gewesen wären, oder dass sie es auf Diallo abgesehen hatten. Andererseits ist es zu einfach,
Diallos Tod als Unfall zu bezeichnen, denn es handelte sich um alles andere als einen vorbildlichen Polizeieinsatz. Die Polizisten
trafen eine Reihe folgenschwerer Fehlurteile, angefangen mit der Annahme, dass ein Mann, der vor seinem Haus ein wenig frische
Luft schnappen will, ein potenzieller Verbrecher sein müsse.
Mit anderen Worten, Diallos Tod fällt in eine Grauzone zwischen vorsätzlicher und unbeabsichtigter Handlung. Das passiert
manchmal, wenn wir die Gedanken unseres Gegenübers ergründen wollen. Diese Irrtümer sind natürlich nur selten derart offensichtlich
und folgenschwer. Meist sind sie subtil, komplex und kommen überraschend häufig vor. Die Ereignisse in der Wheeler Avenue
sind ein gutes Beispiel dafür, wie Gedankenlesen funktioniert, und warum wir uns manchmal schrecklich irren können.
Die Theorie des Gedankenlesens
Wenn wir heute mehr über unsere Fähigkeit des Gedankenlesens wissen, verdanken wir dies vor allem zwei bemerkenswerten Wissenschaftlern:
Silvan Tomkins und Paul Ekman. Tomkins wurde 1911 als Sohn eines russischen Zahnarztes in Philadelphia geboren. Er war klein
und untersetzt, hatte eine wilde Mähne und trug eine riesige Brille mit Plastikgestell. In Princeton und Rutgers unterrichtete
er Psychologie und schrieb eine vierbändige Studie |194| mit dem Titel
Affect, Imagery, Consciousness.
Dieses Werk war so dicht, dass sich seine Leserschaft in zwei etwa gleich große Lager aufteilen ließ: diejenigen, die es lasen,
verstanden und brillant fanden, und diejenigen, die es lasen, nicht verstanden und brillant fanden. Seine improvisierten Vorträge
waren Legende. Am Ende einer Cocktailparty hatte er üblicherweise eine gebannt lauschende Zuhörerschaft um sich versammelt.
Und wenn jemand einwarf: »Noch eine Frage!«, konnte Tomkins zu einem weiteren anderthalbstündigen Solo über Comics, eine Fernsehserie,
die Biologie der Gefühle, seine Probleme mit Kant und seine Begeisterung für die neueste Modediät anheben.
Während der Wirtschaftskrise schrieb er seine Doktorarbeit an der Universität Harvard und arbeitete gleichzeitig als Handicapper
für ein Pferdewett-Syndikat. Dabei war er so erfolgreich, dass er sich ein luxuriöses Leben an der Upper East Side in Manhattan
leisten konnte. An der Pferderennbahn, wo er oft stundenlang auf der Tribüne saß und mit einem Fernglas den Pferden hinterher
starrte, war er nur als »der Professor« bekannt. »Er hatte sein eigenes System, um den Erfolg eines Pferdes vorherzusagen,
das damit zusammenhing, welche emotionale Beziehung ein Pferd zu den anderen Pferden rechts und links von ihm hatte«, erzählt
sein späterer Schüler Ekman. Wenn zum Beispiel ein Hengst in seinem ersten oder zweiten Jahr gegen einen Schimmel verloren
hatte, dann hatte er nach Tomkins’ Ansicht keine Chance, wenn er neben einem Schimmel ins Rennen ging (oder so ähnlich – niemand
wusste
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