Blink! - die Macht des Moments
saßen sie einander
gegenüber und schnitten Gesichter: Zuerst lokalisierten sie im Geiste einen Muskel, dann konzentrierten sie sich darauf, ihn
zu isolieren und einzeln zu bewegen. Dabei beobachteten sie sich gegenseitig, verfolgten die Bewegungen im Spiegel und |197| notierten, wie sich das Muster der Falten im Gesicht mit einer bestimmten Aktionseinheit veränderte. Schließlich zeichneten
sie die Bewegungen auf Film auf. Wenn sie selbst nicht in der Lage waren, eine bestimmte Bewegung zu machen, gingen sie nach
nebenan in den anatomischen Fachbereich der Universität Kalifornien und baten einen befreundeten Chirurgen, den widerspenstigen
Muskel per elektrischem Stromstoß zu stimulieren. »Das war der weniger angenehme Teil«, erinnert sich Ekman.
Nachdem sie jede Aktionseinheit für sich durchgespielt hatten, begannen sie damit, diese zu kombinieren, indem sie einzelne
Bewegungen übereinander legten. Diese Arbeit nahm sieben Jahre in Anspruch. »Bei zwei Muskelbewegungen kommt man auf 300 Kombinationen.
Bei dreien schon auf 4 000. Wir haben bis zu fünf Bewegungen zusammengenommen und sind damit auf über zehntausend Konfigurationen
gekommen.« Die meisten dieser 10 000 Kombinationen sind natürlich bedeutungslos: Es handelt es sich um die Art von Grimassen,
wie sie Kinder schneiden. Doch in ihrer Arbeit identifizierten Ekman und Friesen immerhin dreitausend bedeutungsvolle Aktionseinheiten,
die das essentielle Repertoire der menschlichen Gesichtsausdrücke ausmachen.
Paul Ekman ist heute Mitte 60. Er ist glatt rasiert, hat engstehende Augen und buschige, hervorstehende Augenbrauen. Er ist
zwar nur mittelgroß, wirkt aber größer: Er hat etwas Unnachgiebiges, sehr Stabiles. Aufgewachsen ist der Sohn eines Kinderarztes
in Newark in New Jersey, und er schrieb sich schon mit 15 Jahren an der Universität Chicago ein. Er spricht sehr bestimmt.
Bevor er lacht, macht er eine kleine Pause, als würde er die Erlaubnis dafür abwarten. Er ist von der Sorte, die Listen anlegen
und ihre Argumente durchnummerieren. Seine akademischen Arbeiten haben eine strenge, logische Ordnung; am Ende eines Aufsatzes
hat Ekman jede noch so entlegene Gegenthese und jede Frage zusammengestellt und katalogisiert. Seit Mitte der sechziger Jahre
arbeitet er in einem heruntergekommenen viktorianischen Reihenhaus |198| an der Universität Kalifornien in San Francisco, wo er auch einen Lehrstuhl innehat. Als ich Ekman traf, spielte er mir die
Aktionseinheiten vor, die er vor so langer Zeit identifiziert hatte, leicht nach vorn gebeugt, die Hände auf den Knien. An
der Wand hinter ihm hingen die Fotografien zweier seiner Vorbilder, Silvan Tomkins und Charles Darwin. »Jeder kann Aktionseinheit
4 machen«, fing er an und senkte die Augenbrauen mithilfe der Muskeln
Depressor glabellae, Depressor supercilii
und
Corrugator
.
»Fast jeder kann Aktionseinheit 9.« Er runzelte die Nase unter Einsatz seines
Levator labii superioris alaeque nasi.
»Und jeder kann die Nummer 5.« Er zog den
Levator palpebrae superioris
zusammen und hob ein Augenlid.
Ich versuchte, es ihm nachzumachen, und er sah mich an. »Ihre 5 ist ganz gut«, sagte er großzügig. »Je tiefer die Augen sitzen,
desto schwerer ist die 5. Und die 7.« Er schielte. »12.« Er lächelte kurz, indem er seinen
Zygomaticus major
aktivierte. Der innere Teil seiner Augenbrauen schoss in die Höhe. »Aktionseinheit 1: Schmerz, Sorgen.« Dann benutzte er seinen
Frontalis, Pars lateralis
,
um den äußeren Teil seiner Augenbrauen zu heben. »Das ist Aktionseinheit 2. Nicht ganz einfach zu bewerkstelligen, aber völlig
nutzlos, hat keinerlei Funktion. 23 ist eine meiner Lieblinge. Sie verengen den roten Rand Ihrer Lippen. Ein verlässliches
Zeichen für Ärger. Bewusst ist es gar nicht so leicht zu machen.« Er zog die Lippen zusammen. »Mit nur einem Ohr zu wackeln,
ist aber immer noch die schwierigste Übung. Ich muss mich voll konzentrieren, das verlangt mir alles ab.« Er lachte. »Meine
Tochter wollte immer, dass ich das ihren Freundinnen vorführe. Also, los.« Er wackelte erst mit dem rechten, dann mit dem
linken Ohr. Ekman hat kein besonders ausdrucksstarkes Gesicht. Er sieht aus wie der typische Psychoanalytiker, distanziert
und beobachtend, und es ist überraschend, mit welcher Schnelligkeit und Leichtigkeit er sein Gesicht verändert. »Eines kann
ich nicht«, fuhr er fort, »und das ist Aktionseinheit 39. Zum Glück kann es einer
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