Blink! - die Macht des Moments
»Offensichtlich wollte er erwischt werden.«
Das nackte Gesicht
Paul Ekmans Arbeit macht deutlich, wie viel das Gesicht über unsere Gefühle aussagt. Er geht sogar noch einen Schritt weiter
und sagt, dass das, was sich in unserem Gesicht abspielt, nicht nur
Ausdruck
dessen ist, was in unseren Gedanken vor sich geht: In gewissem Sinne
ist
es das, was in unseren Gedanken vor sich geht. Wenn wir diese Behauptung verstehen, dann verstehen wir auch besser, wie wir
Gedanken lesen.
Die Einsicht reifte heran, als Ekman und Friesen einander gegenübersaßen und an Gesichtsausdrücken von Ärger und Leid arbeiteten.
»Es dauerte ein paar Wochen, bis endlich einer von uns zugab, dass er sich schrecklich fühlte, nachdem wir den ganzen Tag
bestimmte Gesichter gemacht hatten«, erzählt Friesen. »Danach gestand sich auch der andere ein, dass er sich schlecht gefühlt
hatte. Also haben wir uns entschlossen, dem nachzugehen.« Sie begannen nachzumessen, wie sich ihre Körper während der Bewegung
bestimmter Gesichtsmuskeln verhielten. »Nehmen wir an, Sie machen Aktionseinheit 1, Sie ziehen den inneren Teil der Augenbrauen
hoch, Nummer 6, Sie heben die Wangen, und Nummer 15, Sie senken die Mundwinkel«, erklärte Ekman und machte alle drei vor.
»Wir haben herausgefunden, dass der Gesichtsausdruck allein völlig ausreicht, um eindeutig nachweisbare Veränderungen im autonomen
Nervensystem zu bewirken. Als wir das zum ersten Mal festgestellt haben, waren wir sehr überrascht. Wir hatten keinen so eindeutigen
Zusammenhang erwartet. |202| Und es passierte bei uns beiden. Wir fühlten uns schrecklich. Mit diesem Gesichtsausdruck erzeugten wir bei uns selbst Traurigkeit
und seelisches Leid. Und wenn ich meine Augenbrauen senke, das obere Augenlid hebe, die Lider zusammenziehe und die Lippen
zusammenpresse, dann erzeuge ich ein Gefühl des Ärgers. Mein Puls steigt um bis zu zwölf Schläge pro Minute, und meine Hände
beginnen zu schwitzen. Wenn ich die Gesichtsmuskeln bewege, kann ich das übrige System nicht abschalten. Es ist äußerst unangenehm.«
Ekman, Friesen und Robert Levenson, ein weiterer Kollege, der ebenfalls einige Jahre mit John Gottman zusammengearbeitet hat
(die Welt der Psychologie ist ein Dorf), entschlossen sich, diese Effekte zu dokumentieren. In einer Versuchsreihe baten sie
eine Gruppe von Testpersonen, sich an eine negative oder belastende Erfahrung zu erinnern. Eine gleich große Gruppe von Versuchspersonen
sollte lediglich bestimmte Gesichter machen, die negativen Gefühlen wie Ärger, Traurigkeit oder Angst entsprachen. Beide Gruppen
wurden an Sensoren angeschlossen, die Puls und Körpertemperatur, die körperlichen Signale von Ärger, Traurigkeit oder Angst,
messen sollten. Dabei stellte sich heraus, dass die zweite Gruppe, die lediglich die entsprechenden Gesichter machte, dieselben
physiologischen Reaktionen – erhöhte Pulsfrequenz und Körpertemperatur – zeigte, wie die erste.
Ein Team deutscher Wissenschaftler und Psychologen um Fritz Strack führte an der Universität Mannheim eine ähnliche Studie
durch. Sie zeigten zwei Gruppen von Versuchspersonen Zeichentrickfilme. Die eine Gruppe sollte während der Vorführung einen
Stift zwischen die Lippen nehmen, wodurch verhindert wurde, dass sie die beiden für das Lachen wichtigsten Muskeln, den
Risorius
und den
Zygomaticus major,
zusammenzogen. Die andere Gruppe sollte den Stift mit den Schneidezähnen festhalten, was den entgegengesetzten Effekt hat
und sie zu einem Lächeln zwingt. Die Versuchspersonen, die den Stift zwischen den Zähnen hielten, fanden die Trickfilme erheblich
amüsanter als die andere |203| Gruppe. Den meisten Menschen fällt es schwer, diese Erkenntnisse zu glauben, denn wir meinen, dass wir zuerst ein Gefühl haben
und dieses dann in unserem Gesicht zum Ausdruck bringen – oder auch nicht. Wir sehen unsere Mimik als Ergebnis von Gefühlen,
die anderswo entstehen. Die erwähnten Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Prozess auch in die andere Richtung funktioniert.
Ein Gefühl kann auch mit einer Bewegung der Gesichtsmuskeln beginnen. Das Gesicht ist kein schwarzes Brett, auf dem wir unsere
inneren Abläufe kundtun. Es ist ein gleichberechtigter Partner im gesamten Gefühlsprozess.
Dieser Umstand hat beachtliche Auswirkungen auf unsere Fähigkeit, Gedanken zu lesen. In seinen ersten Forschungen filmte Paul
Ekman beispielsweise 40 Patienten aus einer psychiatrischen
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