Blink! - die Macht des Moments
arbeitet freiberuflich. »Er ist gut integriert. Wir
treffen uns einmal die Woche und reden«, erklärt Klin. »Er kann sich gut ausdrücken, ihm fehlt jedoch jegliche Intuition,
und er benötigt meine Hilfe, um sich in der Welt besser zurechtzufinden.« Klin kennt Peter seit Jahren und spricht von seinem
Zustand weder herablassend noch distanziert, sondern sachlich und mit großer |210| Selbstverständlichkeit, als ob er einen kleinen Tick beschreiben würde. »Wir unterhalten uns jede Woche. Ich glaube, ich könnte
während unseres Gesprächs alles machen, in der Nase bohren, die Hosen herunterlassen oder meiner Arbeit nachgehen, ohne ihn
zu beachten. Er schaut mich zwar an, aber ich habe nie das Gefühl, dass er mich betrachtet oder beobachtet. Er konzentriert
sich sehr genau auf meine Worte. Worte bedeuten ihm viel. Aber er bringt die Worte nie in einen Zusammenhang mit Gesichtsausdrücken
oder anderen nichtverbalen Signalen. Weil er meine Gedanken nicht direkt beobachten kann, ist alles, was in meinem Kopf passiert,
ein Problem für ihn. Bin ich sein Therapeut? Eigentlich nicht. Voraussetzung einer Therapie ist es üblicherweise, dass ein
Klient in der Lage ist, seine inneren Motivationen zu verstehen. Sein Verständnis von Motivationen ist jedoch sehr begrenzt.
Er geht seine Probleme im Umgang mit anderen Menschen eher an wie logisch-mathematische Fragestellungen, nicht wie emotionale
Probleme.«
In seinen Gesprächen mit Peter wollte Klin unter anderem herausfinden, wie ein Autist die Welt versteht. Also entwickelte
er zusammen mit einer Gruppe von Kollegen ein Experiment. Sie zeigten Peter einen Film und verfolgten dabei, wie seine Augen
über den Bildschirm wanderten. Es handelte sich um die Verfilmung von Edward Albees Theaterstück
Wer hat Angst vor Virginia
Woolf?.
Richard Burton und Elizabeth Taylor spielen ein alterndes Akademikerpaar, dessen Leben nur noch aus Streit und gegenseitigen
Demütigungen besteht. Eines Samstagabends laden die beiden ihre sehr viel jüngeren Nachbarn, dargestellt von George Segal
und Sandy Dennis, zu sich ein. Sie verwickeln die beiden in ihre psychologischen Spiele und erleben zusammen einen emotionsgeladenen
Abend. »Es ist mit Abstand mein Lieblingsstück. Ich liebe Richard Burton, ich liebe Elizabeth Taylor«, erklärt Klin. Für seine
Zwecke war der Film perfekt. Autisten sind besessen von Gegenständen, doch die Ästhetik dieser Verfilmung von Mike Nichols
orientierte sich stark an der Bühnenfassung. |211| Es kommen kaum Gegenstände vor, und der Fokus liegt fast ausschließlich auf den Dialogen und dem Seelenleben der Figuren.
»Der Film ist extrem reduziert«, erklärt Klin. »Es geht um vier Menschen und darum, was in ihnen vorgeht. Es gibt wenige unbelebte
Gegenstände, die einen Autisten ablenken könnten. Wenn wir
Terminator 2
gesehen hätten, in dem der Hauptdarsteller eine Maschine ist, dann hätten wir andere Ergebnisse bekommen. Doch in
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
geht es fast ausschließlich um intensive zwischenmenschliche Interaktion auf verschiedenen Bedeutungs-, Gefühls- und Ausdrucksebenen.
Uns ging es darum, nachzuvollziehen, welche Prozesse ablaufen, wenn ein Zuschauer versucht, das Geschehen zu verstehen. Deswegen
haben wir uns für diesen Film entschieden. Ich wollte wissen, wie die Welt durch die Augen eines autistischen Mensch aussieht.«
Klin ließ Peter einen Hut aufsetzen, der mit zwei einfachen Kameras ausgestattet war, mit deren Hilfe Peters Augenbewegungen
aufgezeichnet werden konnten. Eine Kamera verfolgte die Bewegung der Fovea, der Netzhautgrube, mit der wir am schärfsten sehen,
die andere Kamera nahm die Bilder auf, die Peter gerade sah. Diese beiden Bilder wurden übereinander gelegt, sodass eine Grafik
entstand, die sichtbar machte, wie sich Peters Auge über das Bild bewegte. Dann wiederholte er das Experiment mit nichtautistischen
Versuchspersonen und verglich die Augenbewegungen.
In einer Szene unterhalten sich Nick (George Segal) und George (Richard Burton) in dessen Arbeitszimmer. Nick zeigt auf ein
Bild an der Wand und fragt: »Von wem stammt dieses Gemälde?« Sie und ich würden diese Szene so sehen: Unsere Augen folgen
der Handbewegung Nicks, landen auf dem Gemälde, wandern zu den Augen von George, um seine Antwort zu verstehen, und kehren
dann zu Nick zurück, um zu sehen, wie er reagiert. Dies alles passiert in kürzester Zeit, und auf Klins Grafik ist die
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