Blink! - die Macht des Moments
sieht Menschen nie ins Gesicht. Wenn er überhaupt mit Menschen zu tun hatte,
dann behandelte er sie – oder besser, Teile von ihnen – wie Gegenstände. Er ließ sich von einer Hand führen. Beim Spielen
stieß er immer mit dem Kopf gegen seine Mutter, so wie er es gelegentlich mit einem Kissen machte. Die Hand seiner Tagesmutter
durfte ihn anziehen, aber über die Hand hinaus nahm er die Frau nicht wahr.«
Als sich Peter die Kussszene zwischen Martha und George ansah, zogen daher ihre Gesichter nicht automatisch seine Aufmerksamkeit
auf sich. Was Peter sah, waren drei Gegenstände: Ein Mann, eine Frau und ein Lichtschalter. Und wie es der Zufall so wollte,
bevorzugte er in diesem Moment den Lichtschalter. »Ich weiß zufällig, dass Lichtschalter in Peters Leben eine gewisse Rolle
gespielt haben«, erklärt Klin. »Er sieht einen Lichtschalter und bewegt sich automatisch auf ihn zu. Es ist so, als wären
Sie ein Liebhaber von Matisse: Sie stehen vor einer großen Wand mit Bildern, und mit einem Mal sehen Sie – ah,
da
ist der Matisse. Ihm geht es genauso: Ah,
da
ist der Lichtschalter. Er sucht nach Bedeutung und Ordnung. Er mag kein Durcheinander. Wir alle bewegen uns auf Dinge zu,
die eine Bedeutung für uns haben, und für die meisten von uns sind das Menschen. Aber wenn Ihnen Menschen keine Ordnung zu
bieten scheinen, dann orientieren Sie sich eben an etwas anderem.«
In einer der zentralen Szenen für Klins Studie wie für den Film sitzt Martha neben Nick und flirtet heiß mit ihm. Sie legt
sogar kurz ihre Hand auf sein Bein. Im Hintergrund steht George, der den beiden halb den Rücken zudreht und immer eifersüchtiger
und ärgerlicher wird. Im Verlauf der Szene bewegt sich der Blick eines normalen Zuschauers in einem Dreieck zwischen den Augen
von Martha, Nick und George hin und her und verfolgt ihre emotionalen Befindlichkeiten, während die Luft im Raum allmählich
immer dicker wird. Und was macht Peter? Er betrachtet zunächst Nicks Mund, dann geht sein Blick zu dessen Hand und schließlich |215| zur Brosche auf Marthas Pullover.
Nicht ein einziges Mal blickt
er zu George,
sodass er von der emotionalen Brisanz der Szene gar nichts mitbekommt.
»In einer Szene ist George kurz davor, die Beherrschung zu verlieren«, erzählt Warren Jones, der das Experiment mit Klin durchführte.
»Er geht zum Schrank, zieht ein Gewehr heraus, zielt auf Martha und drückt ab. In dem Moment kommt ein Regenschirm aus dem
Gewehrlauf und öffnet sich. Wir halten die ganze Szene für echt und haben keine Ahnung, dass es sich um ein Spielzeuggewehr
handelt, bis sich der Schirm öffnet. Das heißt, wir haben in diesem Moment Angst, dass er Martha tatsächlich erschießen könnte.
Ein typischer Autist fängt in diesem Moment an, laut zu lachen, und findet die Situation urkomisch. Ihm fehlt jegliches emotionale
Verständnis der Szene. Er sieht nur die oberflächliche Handlung: George nimmt ein Gewehr, drückt ab, und vorne kommt ein buntes
Schirmchen heraus. Er denkt sich, dass diese Leute offenbar eine Menge Spaß miteinander haben.«
Peters Reaktionen auf den Film
Wer hat Angst vor Virginia
Woolf?
illustrieren auf perfekte Weise, was passiert, wenn wir keine Gedanken lesen können. Peter ist ein hochintelligenter Mann.
Er hat an einer bekannten Universität studiert, hat einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, und Klin spricht spürbar
anerkennend von ihm. Aber weil ihm eine grundlegende Fähigkeit fehlt und er keine Gedanken lesen kann, kann er sich eine Filmszene
ansehen und hinsichtlich der zwischenmenschlichen und emotionalen Vorgänge Schlüsse ziehen, die nichts mit der Realität zu
tun haben. Verständlicherweise unterläuft Peter diese Art von Fehler häufig: Er leidet an einem Zustand, der ihn dauerhaft
gefühlsblind macht. Ich frage mich jedoch, ob es nicht uns allen unter bestimmten Umständen für kurze Momente genauso geht
wie Peter. Ist es möglich, dass Autismus nicht nur als chronischer Zustand vorkommt, sondern auch akut und zeitlich begrenzt
auftreten kann? Könnte das erklären, warum ansonsten normale Menschen in bestimmten Situationen Schlüsse ziehen, |216| die nichts mit der Realität zu tun haben und schwerwiegende Folgen nach sich ziehen?
Streitgespräch mit einem Hund
Im Kino und in Fernsehkrimis wird fortwährend geschossen. Jemand schießt, rennt hinter jemand anderem her und schießt weiter.
Manchmal erschießt der Verfolger den
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