Blink! - die Macht des Moments
Linie,
die den Blick des normalen Zuschauers darstellt, ein einfaches Dreieck zwischen Nick, dem Gemälde, George und wiederum Nick. |212| Peters Muster unterscheidet sich völlig von unserem. Er beginnt irgendwo an Nicks Hals. Aber sein Blick folgt nicht etwa Nicks
Arm hin zu dem Gemälde, denn um diese Zeigegeste deuten zu können, müsste er in der Lage sein, sich sofort in die Lage des
Zeigenden zu versetzen. Dazu ist die Fähigkeit nötig, die Gedanken des Zeigenden zu lesen, und eben diese Fähigkeit fehlt
einem Autisten. »Kinder reagieren ab einem Alter von zwölf Monaten auf Zeigegesten«, erklärt Klin. »Aber dieser 42-jährige,
hochintelligente Mann ist dazu nicht in der Lage. Kinder lernen automatisch und selbstverständlich, diese Signale zu interpretieren
– aber Peter reagiert überhaupt nicht darauf.«
Was macht also Peter? Er hört die Wörter »Gemälde« und »Wand« und sucht daher nach dem Gemälde an der Wand. Aber auf dem Bildausschnitt
sind drei Gemälde zu sehen. Welches also ist es? Klins Grafik zeigt, wie Peters Augen geradezu panisch zwischen den verschiedenen
Gemälden hin- und herspringen. Inzwischen ist das Gespräch jedoch weitergegangen. Peter hätte die Szene nur verstehen können,
wenn Nick exakt in Worten ausgesprochen hätte, um welches Gemälde es sich handelt, wenn er also gesagt hätte, »Von wem stammt
das Gemälde links neben dem Mann und dem Hund?« Ein Autist findet sich nur in einer Umgebung zurecht, in der alles wörtlich
exakt beschrieben ist.
Aus diesem Experiment können wir noch etwas anderes Wichtiges lernen. Der normale Zuschauer sieht George und Nick in die Augen,
wenn sie reden, weil er nicht nur auf die Worte achtet, sondern auch nach mimischen Signalen sucht, um all jene Bedeutungsnuancen
einzufangen, die Ekman katalogisiert hat. Peter jedoch sah in der gesamten Szene niemandem in die Augen. In einer anderen
wichtigen Szene des Stücks, in der George und Martha (Elisabeth Taylor) einander leidenschaftlich umarmen und küssen, sah
Peter nicht etwa in die Augen des Paares, so wie Sie und ich das tun würden, sondern betrachtet einen Lichtschalter an der
Wand hinter ihnen. Das hat nicht etwa damit zu tun, dass Peter Menschen oder gar die Darstellungen körperlicher Zuneigung
abstoßend |213| finden würde. Der Grund ist ganz einfach: Jemand, der sich in andere Menschen nicht einfühlen kann, hat wenig davon, wenn
er sich ihre Augen und Gesichter ansieht.
Robert T. Schultz, einer von Klins Kollegen an der Universität Yale, führte ein ähnliches Experiment durch und benutzte dazu
einen Hirnscanner, der anzeigt, welche Gehirnregionen besonders gut durchblutet werden, mit anderen Worten, welche Region
bei einer bestimmten Tätigkeit aktiv wird. Schultz ließ seine Versuchspersonen ganz einfache Aufgaben durchführen: Er zeigte
ihnen hintereinander mehrere Bildpaare zum Beispiel von Gesichtern oder einfachen Gegenständen wie Stühlen oder Hämmern. Wenn
die beiden Bilder identisch waren, sollten die Testpersonen den einen Knopf drücken, und wenn es sich um unterschiedliche
Bilder handelte, einen anderen. Wenn Sie oder ich ein Gesicht sehen, dann wird eine Region des Sehzentrums aktiviert, die
sich
Gyrus fusiformis
nennt; dabei handelt es sich um ein extrem ausgeklügeltes Instrument, das es uns erlaubt, die Tausende von Gesichtern, die
wir kennen, auseinander zu halten. (Stellen Sie sich das Gesicht von Marilyn Monroe vor. Sehen Sie es vor sich? Dann benutzen
Sie gerade Ihren
Gyrus fusiformis
). Wenn Sie sich einen Stuhl ansehen, dann benutzen Sie einen ganz anderen und weit weniger komplexen Teil des Gehirns, den
Gyrus temporalis
inferior,
der üblicherweise für Gegenstände zuständig ist. (Die unterschiedliche Komplexität zwischen den beiden Regionen ist dafür
verantwortlich, dass Sie sich zwar an eine Schulkameradin aus der 8. Klasse erinnern, wenn Sie sie nach 40 Jahren auf einem
Klassentreffen wiedersehen, aber Schwierigkeiten haben, nach einem zweistündigen Flug Ihren Koffer in der Gepäckausgabe wiederzufinden.)
Als Schultz das Experiment mit Autisten wiederholte, stellte er fest, dass sie für die Gesichtserkennung dieselbe Gehirnregion
benutzten wie für das Erkennen von Gegenständen. Mit anderen Worten, für einen Autisten ist ein Gesicht nichts anderes als
ein Gegenstand. In einer der frühesten Beschreibung eines Autisten in |214| der medizinischen Literatur liest sich das so: »Er
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