Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Erklärung?«
»Leider nein«, gestand Lahen. »Typhus brauchte dafür Fähigkeiten, die es nur in der Vergangenheit gab. Von denen habe ich nicht mal mehr eine Ahnung.«
Seufzend ließ ich mich aufs Bett fallen, streckte mich aus und gähnte. »Ich würde jede Wette eingehen, dass wir heute keinen Besuch mehr kriegen. Die kommen sicher erst in zwei, drei Tagen. Weil sie uns erst mal weichkochen wollen.«
»Wenn du mich fragst, ist vor einer Woche mit niemandem von denen zu rechnen. Wir sind hier im Turm. Und die Schreitenden lassen dich zu gern spüren, dass sie sich für die Herrinnen der Welt halten, die andere durchaus warten lassen können.«
»Wetten wir doch wirklich«, schlug ich vor und strich mir über das inzwischen bärtige Kinn. »Mal sehen, wer gewinnt.«
Wir kriegten weder nach zwei Tagen noch nach einer Woche Besuch. Wäre da nicht das Essen gewesen, das man uns regelmäßig brachte, ich hätte geschworen, dass die uns längst vergessen hatten. Aber nein, dreimal täglich öffnete sich die Tür, und drei breitschultrige Gardisten in voller Bewaffnung traten ein. Ihnen folgten ein Glimmender und die Diener mit den Tabletts. Sobald sie uns das Essen hingestellt hatten, verschwanden sie wieder und schlossen hinter sich ab. Das schmutzige Geschirr nahmen sie erst wieder mit, wenn sie uns die nächste Mahlzeit vorsetzten.
Zur Ehrenrettung des Turms muss ich einräumen, dass sie uns nicht bei Brot und Wasser hielten. Im Gegenteil, das Essen war vorzüglich. Anfangs hatte ich zwar befürchtet, sie wollten uns damit vergiften, aber dann hatte ich mir überlegt, sie würden uns bestimmt nicht ins Reich der Tiefe schicken, bevor der Turm von Lahen nicht die Antworten erhalten hatte, auf die er so erpicht war. Daraufhin langte ich tüchtig zu.
Im Unterschied zu mir aß Lahen kaum etwas und sah mit jedem Tag düsterer aus. Sie hing ihren Gedanken nach, die offenbar alles andere als rosig waren. Wann immer ich sie aufzuheitern versuchte, rang sie sich bloß ein verkrampftes Lächeln ab. Irgendwann platzte mir der Kragen, und ich hätte sie beinahe gezwungen, ihre Portion aufzuessen, denn wenn sie hier verhungerte, rettete uns das ganz bestimmt nicht.
Shen verschonte uns glücklicherweise mit Besuchen. Auch wenn wir uns häufig langweilten – auf eine Abwechslung in Form der durchtriebenen Visage des Heilers konnte ich getrost verzichten. Stattdessen beschloss ich nach anderthalb Wochen, etwas für meine Bildung zu tun. Da Lahen mir gleich zu Beginn unserer Beziehung das Lesen beigebracht hatte, schnappte ich mir nun eines der Bücher aus den Regalen. Zu meinem Bedauern bestand die Hälfte von ihnen jedoch aus Werken in anderen Sprachen. Ein weiteres Dutzend war im blumigen Kauderwelsch der Hochwohlgeborenen verfasst, fünf Bände warteten mit der unverständlichen Schrift der Ye-arre auf. Der Rest konnte im Grunde nur irgendwelche Alleswisser reizen. Ich jedenfalls vermochte mich weder für den Stammbaum eines Herzogs aus Grohan noch für den Aufbau der Handelsunion in der Goldenen Mark und Urs zu erwärmen.
Am Ende griff ich etwas halbherzig zu einem Buch mit einem roten Einband, in dem es um Kämpfe und Intrigen ging. Das musste irgendein Märchenerzähler geschrieben haben, trotzdem war es recht amüsant. Im Mittelpunkt der Handlung stand ein Kerl namens Rabe, der ohne Unterlass Wein trank, den er aus irgendeinem Grund
schwarzen Wein
nannte. Außerdem schlief er mit jeder Frau, die ihm begegnete (seine Königin eingeschlossen). Jeden Tag leitete er damit ein, dass er im Duell ein Dutzend Lügenbolde und ausgemachte Nichtsnutze tötete. Ansonsten tat dieses seltsame Subjekt nichts lieber, als zu kämpfen, Karten zu spielen und allgemeine Verwirrung zu stiften. Doch obwohl die ganze Geschichte meiner Ansicht nach jeder realen Grundlage entbehrte, las ich sie gern zu Ende. Und dann beehrte uns auch endlich unser heißersehnter Besucher.
Am zwölften Tag unserer Gefangenschaft wurde die Tür aufgerissen, doch statt der Diener mit dem Essen trat Shen ein.
»Ihr werdet erwartet«, teilte er uns mit.
»Ach ja?«, entgegnete ich. »Und wir hatten uns schon gefragt, ob ihr uns vergessen habt.«
Das Ehrengeleit aus sechs Gardisten und zwei Schreitenden lauerte bereits im Gang auf uns. Bei den Magierinnen handelte es sich sogar um alte Bekannte: Diese beiden hatten uns damals, nach unserem kleinen Besuch bei Yokh, im Weinkeller in Empfang genommen. Eine von ihnen war hager wie eine Bohnenstange und
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