Blitz: Die Chroniken von Hara 2
verlässt die Schenke!«, flüsterte Shen.
Mit gespanntem Bogen stellte ich mich neben ihn.
Die Verdammte stand neben der Kutsche und redete mit dem Wirt. Der nickte beflissen.
»Das Schwein verrät uns«, zischte Shen. »Das hab ich im Gefühl. Der verrät uns.«
»In dem Fall wäre sie längst raufgekommen«, widersprach ich. »Halt einfach mal den Mund, ja!«
»Sollen wir sie umbringen?«, setzte Shen jedoch nach.
»Bitte?!«, stieß ich aus, denn ich meinte, mich verhört zu haben.
»Erschieß sie! Das würde die Verdammte nicht überleben. Du brauchst nur einen Schuss, Ness!«
Lepra hatte mir halb den Rücken zugekehrt. Mich trennte eine Entfernung von höchstens fünfundzwanzig Yard von ihr. Keine Herausforderung für einen erfahrenen Schützen. Wenn ich jetzt schoss, würde diejenige, deren Name in den letzten fünfhundert Jahren das ganze Land in Schrecken versetzt hatte, für ewig ins Reich der Tiefe eingehen.
Ein guter Schuss.
Mehr nicht.
Diese Bestie würde sterben, ohne auch nur zu wissen, wer sie umgebracht hatte. Dann gäbe es eine Verdammte weniger. Wenn da bloß nicht die vielköpfige Garde Lepras gewesen wäre. Der würden wir nach dieser Tat nicht entkommen.
Deshalb senkte ich den Bogen.
Denn ich war nicht bereit, mit unserem Leben für das der Verdammten zu zahlen.
Von unten klangen Befehle herauf, eine Peitsche knallte, und die Kutsche zuckelte unter den Rufen des Kutschers davon.
»Wenn du da bloß keinen Fehler gemacht hast«, bemerkte Lahen leise.
Ich sah sie an, doch sie wich meinem Blick aus, denn sie verstand genau, warum ich diese Hexe am Leben gelassen hatte.
»Das hab ich nicht«, brummte ich.
»Seit wann bist du ein Feigling?«, fragte Shen mit einer Stimme, die vor Enttäuschung zitterte.
»Seit du ein Dummkopf bist!«, entgegnete ich und löste die Sehne vom Bogen.
»Du hattest die Möglichkeit, einer Verdammten das Leben zu nehmen! Ihr Schicksal lag in unseren Händen! Du käuflicher Gijan, du! Hätte ich dir für ihre Seele vorher Geld anbieten müssen?!«
Da riss mir der Geduldsfaden, und ich versetzte ihm einen Kinnhaken.
»Mag Meloth urteilen, wer von uns beiden recht hatte«, herrschte ich ihn an. »Steh auf und wisch dir das Blut ab. Und unterlass alle Dummheiten, sonst werd ich wirklich wütend.«
Diese Warnung hätte ich mir natürlich sparen können. Immerhin rechnete ich mit der nun folgenden Wendung der Ereignisse, weshalb ich seinen Schlag mit leichter Hand abwehren und ihm meine Linke in die Brust rammen konnte.
»Hört auf, ihr Idioten!«, schrie Lahen. »Shen, Ness! Es reicht! Hebt euch das für später auf!«
Erstaunlicherweise hatte ihre Aufforderung auf uns die gleiche Wirkung, als hätte sie einen Eimer kaltes Wasser über uns ausgegossen.
»Das werden wir«, versprach Shen und wischte sich das Blut von den aufgeschlagenen Lippen.
Ich zuckte bloß die Achseln und packte unsere Sachen rasch zusammen. Lahen folgte meinem Beispiel. Ich merkte, dass sie sich nur mit Mühe beherrschte, um mir nicht für diese dumme Schlägerei eine Standpauke zu halten. Schweigend gingen wir hinunter. Dort wischte der Wirt gerade die Tische ab.
»Was ist geschehen?«, fragte er, als er Shen sah.
»Ich bin aus dem Bett gefallen«, antwortete dieser.
»Tut mir leid«, erwiderte der Wirt, obwohl er Shen ganz offensichtlich nicht glaubte. »Ihr brecht schon auf?«
»Für uns wird es Zeit.«
»Aber was ist mit dem Frühstück?«
»Danke, wir sind nicht hungrig«, sagte ich. »Wer ist da eigentlich eben gekommen? Ich habe aus dem Fenster eine Kutsche gesehen.«
»Eine alte Dame, die eine Reise macht. Sie hat vor zwei Wochen bei Herrn Aligo Unterkunft genommen, jenem Adligen, der Pferde züchtet. Sie kauft gern bei mir kalten Shaf und zeigt sich jedes Mal sehr großzügig.«
»Kommt sie oft?«
»Fast jeden Tag. Warum?«
»Sie hat gute Pferde. Aber die wird sie uns wohl nicht verkaufen, oder?«
»Das kann ich nun wirklich nicht sagen. Wartet doch hier auf sie und fragt sie selbst. Morgen kommt sie wieder. Oder begebt Euch zur Burg. Zu Fuß ist es ein gutes Stück, aber ich könnte meinen Neffen bitten, Euch zu fahren. Für einen Sol würde er Euch diese Gefälligkeit ganz gewiss erweisen.«
»Nicht nötig«, versicherte ich lächelnd. »Wir gehen gern zu Fuß.«
Wir verließen die Schenke und schlugen die Straße Richtung Kahler Stein ein. Hatte Lereck also doch recht gehabt. Es wäre viel klüger gewesen, bei ihm zu bleiben. Ein paar Tage länger
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