Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Soritha die Portale blockiert hat, konnte niemand sie zu neuem Leben erwecken.«
»Sag mal, Shen«, mischte sich Lahen ins Gespräch, »warum tischst du uns dieses Lügenmärchen auf? Es gibt immer noch genug Wegblüten. Im Imperium sind es über hundert.«
»Das ist eine verschwindend geringe Zahl verglichen mit der, die es zuzeiten des Skulptors gab«, hielt Shen dagegen.
»Man hätte sie eben nicht zerstören dürfen. Im Übrigen ist diese hier hervorragend erhalten«, sagte Lahen. »Auch wenn sie nicht mehr funktioniert.«
»Diese Wegblüte hat der Skulptor, nebenbei bemerkt, gezüchtet, kurz bevor er den Turm fertigstellte. Sie ist das erste Portal überhaupt. Und jetzt lasst uns runtergehen.«
»Warum bezeichnest du es als
gezüchtet?
«, wollte ich wissen. »Nicht als
konstruiert?
«
»So haben es die Augenzeugen von damals in ihren Tagebüchern festgehalten. Der Skulptor habe die Wegblüte nicht konstruiert, sondern eben gezüchtet, wie eine richtige Blume. Wie er das jedoch genau gemacht hat, das weiß heute niemand mehr. Leider.«
Leider – das traf es genau. Es wäre wirklich nicht schlecht, wenn es nur eine Sekunde dauerte, um von Alsgara nach, sagen wir, nach Korunn oder in den Sandoner Wald zu gelangen. Wenn du nicht wochenlang auf dem Rücken eines Pferdes zubringen, nicht unter freiem Himmel oder in verwanzten Schenken übernachten müsstest.
Aber ich schweife ab!
Denn jetzt fiel mir auf, dass wir nicht die Einzigen im Saal waren. An einem der Fenster standen eine Frau im blauen Gewand der Schreitenden und ein Mann, der den purpurroten Umhang der Dämonenbeschwörer trug. In ihm erkannte ich ohne Mühe Giss wieder.
Von Shen angeführt, stiegen wir die Treppe hinunter, umrundeten die Wegblüte und blieben auf sein Handzeichen hin stehen. Giss gab keinesfalls vor, uns nicht zu kennen, sondern begrüßte uns mit einem Nicken. Als sich unsere Blicke kreuzten, begriff ich sofort, dass er auf unserer Seite stand. Er presste die Lippen aufeinander, um mir zu verstehen zu geben, ich solle besser den Mund halten.
Eine Warnung, die er sich hätte sparen können. Dazu steckten wir viel zu tief in der Klemme. Ob wir nun ein Wort zu viel riskierten oder nicht, es würde nichts ändern. Die Entscheidung über unser weiteres Schicksal hatte die Frau neben ihm nämlich längst getroffen.
Ceyra Asani, die Mutter der Schreitenden, das Oberhaupt des Turms, die Vorsitzende des Rats, Hüterin der Blauen Flamme und so weiter und so fort stellte sich zu meiner Verwunderung nicht als alte Schachtel mit einer Warze auf der Nase heraus, sondern als eine Frau, die kaum die Schwelle zu ihrem fünften Lebensjahrzehnt überschritten haben konnte. Sie war einen Kopf kleiner als ich, hatte blaue Augen und blondes Haar (jedenfalls soweit ich das aufgrund der einen Locke, die unter ihrer Haube hervorlugte, erkennen konnte). Die Farbe ihres Gesichts konnte es mit der Reinheit und dem Weiß von Porzellan aufnehmen, und die Augen hätten jedem Eisberg im Norden zur Ehre gereicht. Die blutleeren Lippen wiesen verkniffen nach unten, das Kinn sprang scharf vor, und die Nase schien etwas zu groß geraten.
Im Grunde eine unauffällige Frau. Kein Scheusal, keine Schönheit. Und dennoch stand vor uns diejenige, die Lahen und mir vor sieben Jahren den Auftrag erteilt hatte, eine Schreitende zu ermorden, uns dafür zehntausend Soren gezahlt – und uns die ganze Zeit über gesucht hatte.
Eine kluge, eine durchtriebene und höchst gefährliche Frau, die uns eine schändliche Niederlage beigebracht hatte.
Das Gewand unterschied sich durch nichts von der Alltagskleidung anderer Schreitender. Allerdings trug sie Handschuhe aus blauer Seide.
Mich würdigte sie nur eines flüchtigen Blickes, dafür unterzog sie Lahen vom Kopf bis zu den Füßen einer eingehenden Musterung.
»Ihr wisst, wer ich bin?«, wandte sie sich mit überraschend angenehm klingender Stimme an uns.
»Ja, das tun wir«, antwortete Lahen für uns beide.
»Sehr schön, denn das spart uns allen Zeit«, erwiderte die Mutter. »Magister Giss und ich haben gerade über euch gesprochen. Er hat ein gutes Wort für euch eingelegt, obwohl er weiß, was ihr getan habt. Ich habe mir seine Argumente aufmerksam angehört. Darüber hinaus habt ihr ihm geholfen, dem Kessel in der Dabber Glatze zu entkommen, womit ihr, ohne es selbst zu wissen, auch dem Turm einen Dienst erwiesen habt. Das weiß ich zu schätzen, insofern werden eure Verdienste berücksichtigt, wenn der Rat ein
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