Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Mutter aushecke und dann ihre Handschuhe mit den Lippen berühre, würde sterben. Möglicherweise war es ja früher tatsächlich einmal so gewesen, heute jedoch gewiss nicht mehr. Und ob ein wahrer Kern hinter dieser Legende steckte, würden sie nie mehr in Erfahrung bringen. Dieses Geheimnis war wie so viele andere im Dunkel der Jahrhunderte verloren gegangen.
Welch Wissen wir doch während der Zeit des Großen Niedergangs eingebüßt haben, dachte Ceyra Asani. Sie hätte vor Verzweiflung schreien und noch heute alle umbringen können, die es nicht für nötig befunden hatten, jenes Wissen für die Nachwelt zu bewahren. In den letzten tausend Jahren waren die Schreitenden von mächtigen Magierinnen zu blinden Mäusen verkommen, die eifersüchtig zwei Dutzend kümmerlicher Körnchen hüteten, dabei jedoch glaubten, ihr Speicher berste vor Gerste. Und nicht eine von ihnen hatte begriffen, dass dieser Getreidespeicher längst eingestürzt war.
Jede neue Generation zeigte ein geringeres magisches Potenzial als die vorausgegangene. Das, was früher als ein kaum wärmender Funke galt, wurde heute als wahre Feuersbrunst empfunden. Wie gern wäre sie deshalb vor sechs, sieben Jahrhunderten geboren worden, als die Welt und die Menschen noch echte Magie kannten.
»Ich möchte Irla besuchen.«
»Leider hat sie Euch nicht erwartet und ist auf diesen Besuch nicht vorbereitet«, erwiderte Griho. »Die Mutter indes nicht in der gebührenden Aufmachung zu empfangen, hieße, sie zu beleidigen und …«
»Mich beleidigt man nicht so schnell«, unterbrach ihn Ceyra. »Die Angelegenheit eilt und duldet keinen Aufschub. Also, lass mich rein!«
Sich einem direkten Befehl zu widersetzen, das wagte Griho nun doch nicht. So verbeugte er sich und öffnete mit ausgesuchter Höflichkeit die Tür.
Die Sonnenstrahlen tanzten über die Wände, die zahllosen Fenster und über das feine goldene Gerüst, das diese aufwendige Konstruktion in der Luft hielt. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Abgesehen von dem Stapel Bücher auf dem Boden vielleicht, der aufs Vierfache angewachsen schien.
Irla gab vor, etwas zu schreiben, doch sobald Ceyra eintrat, erhob sie sich: »Seid gesegnet, Mutter.«
»Setz dich, Schwester. Ich habe gehört, dass dich in der letzten Zeit dein Rücken plagt«, sagte die Mutter, während sie auf die Schreitende zuging und ihr die Hand zum Kuss hinhielt.
Wie nicht anders zu erwarten, scherten sich die Handschuhe in keiner Weise um die alte Intrigantin. Zu bedauerlich. Denn diese gehörte allemal ins Reich der Tiefe.
»Die Jahre fordern ihren Tribut. Ich bin nicht mehr die junge Frau von einst.«
»Selbst im Turm gibt es Zugluft. Soll ich dir Shen schicken?«
»Danke, aber wir brauchen ihn wirklich nicht zu bemühen. Mir geht es schon wesentlich besser.«
Irla misstraute dem Heiler, weil sie fürchtete, er würde auf ihren, Ceyras, Befehl hin, bei der Behandlung ein wenig
übertreiben.
Was für eine Närrin!
Als ob der Junge zu solch willkommenen Taten imstande wäre! Er, der einfach keinen Schlüssel zu dem außergewöhnlichen Potenzial seines Funkens fand! Wenn ihn seine Gabe einmal nicht im Stich ließ, war das doch purer Zufall.
Beim Stern von Hara! Warum war bloß keiner ihrer einfältigen Vorfahren auf die Idee gekommen, eine Abhandlung zur Ausbildung von Heilern zu verfassen?! Das hätte alles so viel einfacher gemacht! Aber so? Wie sollte sie ihrem Schüler etwas beibringen, das sie selbst nicht wusste?!
»Lass uns allein«, wandte sich Ceyra an Griho.
Doch der Kerl machte keine Anstalten, dieser Aufforderung nachzukommen, sondern sah stattdessen Irla fragend an. Diese nickte kaum merklich.
»Selbstverständlich«, erwiderte Griho daraufhin. »Falls ich gebraucht werde – ich warte vor der Tür.«
»Hast du etwas derart Wichtiges mit mir zu besprechen, dass ich meinen Gehilfen fortschicken muss?« Irla schüttelte missbilligend den Kopf, ihre grünen Augen aber blieben ohne jede Anteilnahme.
Bevor Ceyra jedoch antwortete, wirkte sie einen Zauber, der das Zimmer gegen alle fremden Ohren abschirmte.
»Es ist sogar weit wichtiger, als du dir vorzustellen vermagst«, sagte sie dann.
»Du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
»Ich brauche deine Hilfe.«
Und erst mit dieser Eröffnung lockte sie Irla aus der Reserve.
»Wobei?«
»Es geht um den Mord an Salia.«
»In dieser Angelegenheit darfst du uneingeschränkt auf mich zählen. Der Rat wird die beiden
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