Blitz: Die Chroniken von Hara 2
genutzt werden konnte.
»Wer bist du und wie hast du uns aufgespürt?«, fragte der Mann, ohne den konzentrierten Blick von dem Buch vor ihm zu lösen.
»Ich bin zufällig auf euch gestoßen.«
»Eine Antwort, die zeigt, dass du entweder unverschämt oder dumm bist. Beide Varianten entzücken mich nicht gerade. Wenn du auch in Zukunft dieses Verhalten an den Tag legst, wird er …« – der magere Finger mit dem langen, schwarz lackierten Nagel wies auf die Leiche – »… gern seinen Platz für dich räumen.«
»In dem Fall muss ich dich darauf hinweisen, dass deine Chancen, unter der Decke zu baumeln, weitaus größer sind als meine.«
Jetzt riss sich der Nekromant doch von seiner Lektüre los und sah sie an. »Bevor du stirbst, würde ich trotzdem gern noch deinen Namen erfahren.«
Thia seufzte.
Was für ein selbstgefälliger, dummer Esel. Er fragte noch nicht einmal danach, ob sie über die Gabe verfüge. Obwohl: Irgendwie war das verständlich. Es sucht ja auch niemand auf einem Lastkarren voller Dung nach den Smaragden des Herzogs von Grohan …
»Thia al’Lankarra. Flamme des Sonnenuntergangs. Tochter der Nacht. Reiterin auf dem Orkan. Mörderin Sorithas. Reichen dir diese Namen, Auserwählter?«
Der Mann brach in ein trockenes, kläffendes Gelächter aus. »Du bist nicht nur unverschämt und dumm, sondern obendrein auch noch wahnsinnig, wenn du glaubst, ich würde eine solche Lüge schlucken! Warum heißt es wohl
Tochter
der Nacht! Thia al’Lankarra ist eine Frau, kein Mann!«
»Und du bist blind, wenn du nur auf die äußere Hülle achtest. Erweise mir Ergebenheit, Nekromant. Auf der Stelle!«
»Ihr da!«, rief er den Untoten zu, bevor er die Nase wieder in sein Buch steckte. »Hängt dieses Stück Fleisch auf!«
Thia wusste, dass sie ein großes Risiko einging, indem sie so nahe beim Turm Magie anwandte. Doch ihr blieb keine andere Wahl. Deshalb hoffte sie inständig, die Schreitenden würden nicht auf die Idee kommen zu überprüfen, welche Farbe dieser Zauber zeigte. Mit leichten Gedankenstrichen schuf sie ein Geflecht in der Luft, das ihren Geist in den Körper des gehäuteten Toten brachte. Pork, nun aufgewacht, flüchtete sich mit leisem Winseln an die Wand. Die Nekromantin bekam diesen Körperwechsel zu Thias Verwunderung sogar mit. Sie schrie auf, um den Mann zu warnen, doch da badete Thia bereits in dem rauschenden Kraftstrom, der sich über sie ergoss.
Der Tote am Haken krümmte sich, das Seil riss, und der Körper krachte polternd zu Boden. Sofort schoss einer der Shej-sa’nen einen schweren Pfeil ab, der den Mann auch in der Brust traf – was Thia aber nicht im Mindesten scherte. Totes Fleisch blieb totes Fleisch. Sie war in diesem Körper nur zu Gast, gewöhnlicher Stahl konnte ihr da nichts anhaben.
Noch ehe der Bogenschütze einen zweiten Pfeil abgeben konnte, wurden er und ein weiterer Shej-sa’n sowie sämtliche Untote, die sich auf sie stürzten, von grauen Fesseln umschlungen, die nun aus den Wänden wuchsen. Die Nekromanten sprangen auf, doch jetzt war Thia stärker als die beiden zusammen. Indem sie die Hilsse einschläferte, kappte sie obendrein die Verbindung der beiden zu ihrem dunklen Funken.
Die Nekromantin hielt daraufhin den nunmehr nutzlosen Stab mit beiden Händen wie einen Schild vor sich und funkelte wild mit den schwarzen Augen. Ihr Gefährte gab sich etwas gelassener.
»Wie ich bereits sagte, Farid, du bist blind«, gab Thia durch den Mund des Toten von sich. »Wie konnte ich nur jemals deine Ausbildung für beendet erklären? Wo du nicht einmal die banalsten Dinge erkennst. Glaub mir, das bringt dich noch ins Grab.«
Sollte der Nekromant noch immer Zweifel an Thias Identität gehabt haben, waren sie nach diesen Worten endgültig ausgeräumt. Prompt ließ er sich aufs Knie herab, starrte auf den Boden, legte die linke Hand um den Stab und die rechte aufs Herz.
Die rituelle Verbeugung eines Auserwählten vor einer Gebieterin oder einem Gebieter.
Die Nekromantin folgte seinem Beispiel sofort.
»Herrin! Ich bitte, uns die mangelnde Ehrerbietung zu verzeihen. Wir haben Schuld auf uns geladen, aber glaubt mir, wenn wir geahnt hätten, wer uns seines Besuchs für würdig befindet, hätten wir Euch mit aller gebotenen Achtung empfangen. Doch niemand hat uns von Eurer Ankunft in Kenntnis gesetzt«, versicherte er mit einer Stimme, die im Unterschied zu seinen Worten nicht sonderlich servil klang. Farid war schon immer ein stolzer Mann gewesen. Dagegen
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