Blitz: Die Chroniken von Hara 2
man müsse das Wissen, die Kraft und den Einfluss von einst zurückerlangen. Ihrer Ansicht nach war dafür eine neue Magie notwendig. Diese Gruppe fürchtete, die Schreitenden würden auch noch ihre letzten Möglichkeiten einbüßen, wenn man nicht schnellstens etwas unternahm. Sie versicherten, es werde nur noch zwanzig, dreißig Generationen dauern, bis der Turm vollständig am Ende wäre. Die Gefahr dieses endgültigen Verlusts der Magie schien eine derart schreckliche Bedrohung zu sein, dass die Gruppe fest an ihren Erfolg glaubte. Sie wollte den Weg beschreiten, den vor ihnen schon der Skulptor genommen hatte, und die Schule im Regenbogental einer grundlegenden Neuerung unterziehen. Die neuen Schüler und Schülerinnen sollten in beiden Aspekten der Gabe unterwiesen werden. Sie wollten Weiß nicht in Schwarz, sondern in Grau verwandeln.«
»Und deshalb haben sie den Dunklen Aufstand angezettelt?«
»Nein. Anfangs glaubten sie, der Turm müsse sich ihrer Sichtweise einfach anschließen, wenn sie alle Gefahren, aber auch alle Perspektiven klar aufzeigten.«
»Wie naiv!«
»Nicht unbedingt. Die Lage war damals bereits derart verzweifelt, dass sie viel Unterstützung erhielten. Womit jedoch niemand gerechnet hatte, war, dass ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt Soritha die neue Mutter wurde. Sie war für ihren Ehrgeiz ebenso bekannt wie für ihren Hass auf die Sdisser Nekromanten. Sie zog viele der Anhänger dieser Gruppe auf ihre Seite. Der Gruppe blieb damit nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis die Unzufriedenheit mit Sorithas Macht den Turm aufwühlte. Das war allerdings erst zehn Jahre später der Fall.«
»Halt!«, unterbrach ich sie. »Die Verdammten schöpfen ihre Kraft doch aus dem Reich der Tiefe! Warum hast du ausgelassen, wie es dazu kommen konnte?«
»Weil ich dafür noch einmal ausholen müsste«, antwortete sie. »Aber gut. In den Gemächern, die früher dem Skulptor gehörten, lebte eine der Schreitenden, die dem Rat angehörte und mit großer Macht ausgestattet war. Ihr Name war Tsherkana. Sie hat einmal, vermutlich rein zufällig, ihre Gabe auf eine Wand angewendet, auf der die Darstellung eines Torbogens zu erkennen war. Du erinnerst dich doch an das Zeichen am Turmhelm des alten Meloth-Tempels? Das Symbol in seinen einstigen Gemächern war genauso. Es ist das persönliche Siegel des Skulptors, das die geheime Tür zu einem Versteck öffnet.«
»Und was hat Tsherkana entdeckt?«, fragte ich mit stockendem Herzen.
»Ein paar dreckige Wände. Doch sobald sie ihre Gabe einsetzte, traten Buchstaben auf ihnen hervor, die Beschreibung eines Zaubers. Nach dem Dunklen Aufstand haben die Schreitenden diese Kammer aufgespürt und – wie sie es sehen – unschädlich gemacht. Der Zauber diente nämlich der Aneignung des dunklen Funkens. Tsherkana hat das sofort begriffen. Und sie war ehrgeizig genug zu versuchen, sich diese Seite der Gabe anzueignen, über die sonst niemand mehr aus dem Turm gebot. Doch es gelang ihr nicht. Sie vermochte den dunklen Funken einfach nicht zu kontrollieren. Deshalb brauchte sie die Hilfe von jemandem, der die Besonderheiten dieses Zaubers möglicherweise begriff. Und wer versteht einen Heiler besser als ein anderer Heiler? Oder eine Heilerin?«
»Die Verdammte Lepra!«
»Völlig richtig, mein Liebster. Nur hieß sie damals noch Talki, war die engste Freundin von Tsherkana und mutig genug, den Versuch zu wagen. Zu zweit schafften sie es, den Zauber zu entwirren. Daraufhin machten sie sich daran, sich die neue Magie anzueignen. In aller Heimlichkeit natürlich. Allerdings kam damals ohnehin niemand auf die Idee, den Funken anderer zu überprüfen. Die beiden erzielten rasche Fortschritte. Sie brauchten nur etwas mehr als zwanzig Jahre, um echte Meisterinnen dieser neuen Kunst zu werden. Nach und nach zogen sie weitere Schreitende auf ihre Seite. Sie beobachteten ihre Mitmenschen, schätzten sie ein und prüften sie, und erst nach Monaten, mitunter auch erst nach Jahren boten sie einem Kandidaten oder einer Kandidatin die neue Kraft an. Und nicht ein einziges Mal unterlief ihnen bei ihrer Wahl ein Fehler. Alle, denen dieses Angebot gemacht wurde, willigten ein, die verbotene Magie zu erlernen. Sicher, jeweils aus ganz unterschiedlichen Gründen – doch die meisten erkannten, welche Möglichkeiten sich ihnen auftaten, wenn der dunkle Funke zu einem Faden mit dem lichten Funken verwoben wurde. Ihnen öffnete sich damit eine Tür, die in ein neues Zeitalter
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