Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Portraits von gleicher Größe in schlichten Holzrahmen.
»So«, sagte Lahen, »und jetzt will ich dir erzählen, was eigentlich geschehen ist.« Sie dachte kurz nach, als wüsste sie nicht, wie sie anfangen sollte. »Wie ich bereits gesagt habe, stimmt deine Version nicht ganz. Als die Verdammten nach der Macht griffen, wollten sie diese nur, um ihre eigentliche Sache durchzusetzen. Sie, also die Macht, war aber niemals der ausschlaggebende Grund für den Dunklen Aufstand. Glaub mir, wegen einer Lappalie wie der Blauen Flamme wäre es kaum zur Rebellion oder zur Spaltung des Turms in zwei feindliche Lager gekommen.«
»Das war eigentlich gar kein Machtkampf?«, fragte ich. »Du willst mir ja wohl nicht weismachen, Magier und Magierinnen seien anders als wir Menschen sonst.«
»Sie sind genauso unterschiedlich wie wir alle. Es gibt solche wie Ceyra Asani, und es gibt solche wie … wie zum Beispiel Ghinorha«, erwiderte Lahen lächelnd. »Doch zurück zum Ausgangspunkt. Der Streit darüber, ob man Kraft aus dem Reich der Tiefe schöpfen dürfe, tobte schon lange vor der Geburt des Skulptors. Er geht auf den Anbeginn der Zeiten zurück, als Hara noch eine sehr junge Welt war. Einige sprachen sich strikt gegen die Verwendung des dunklen Funkens aus, andere hießen sie gut. Irgendwann gingen die Wortgefechte in den sogenannten Krieg der Kraft über. Im Vergleich zu ihm ist der Krieg der Nekromanten das reinste Geplänkel unter Kindern. Einige Jahrhunderte lang spielten sich in dieser Welt Dinge ab, an die sich heute niemand mehr erinnern mag, so schrecklich waren sie. Dir gefriert das Blut in den Adern, wenn du Abschriften der Chroniken aus dieser Zeit liest. Die eine Hälfte Haras war verbrannt, die andere glich mehr oder weniger dem Reich der Tiefe. Doch auch dieser Krieg entschied den alten Streit nicht. Die einzige Folge war, dass diejenigen, die dem Licht anhingen, im Norden des Kontinents blieben, während jene, die das Dunkel vorzogen, nach Süden gingen. Die einen bauten den Turm auf, die anderen die Kreise von Sdiss. In den jeweiligen Schulen bildeten sie dann ihren Nachwuchs aus. Doch es dauerte nicht lang, da unterschied sich die lichte Magie grundsätzlich von der dunklen. Die ursprüngliche Form geriet in Vergessenheit. Vierhundert Jahre vor der Geburt des Skulptors war die Spaltung zur Vollendung gelangt. Danach konnte die eine Seite die Magie der anderen nicht mehr anwenden. Diejenigen, die über das Dunkel geboten, vermochten das Licht nicht mehr zu berühren, während jene, die ihre Ausbildung im Regenbogental absolviert hatten, außerstande waren, das Dunkel zu beherrschen. Mit dem Eintritt in eine der beiden Schulen nahm man sich die Möglichkeit, sich auch Wissen aus der anderen anzueignen. Dazu wichen beide zu stark voneinander ab, und ein ausgebildeter Funke fand keine Verbindung mehr zum anderen Aspekt der Gabe. Daran sollte sich über viele Jahre nichts ändern. Allerdings waren beide Schulen auch gar nicht daran interessiert, den Graben, der sie trennte, zu überwinden. Sie waren einzig darauf erpicht, die eigene Kunst zu vervollkommnen. Langweilt dich das auch nicht?«
»Nein«, antwortete ich. Und das war keinesfalls gelogen.
Sie nickte, setzte sich auf den Boden, zog die Beine an, schlang ihre Arme um sie und bettete das Kinn auf die Knie. Obwohl sie mich ansah, weilte sie eigentlich irgendwo in ferner Vergangenheit. Ich wartete geduldig darauf, dass sie fortfuhr.
»Doch irgendwann endet alles«, sagte sie schließlich. »Früher oder später kommt ein Mensch zur Welt, der den Graben nicht hinnimmt und ihn zu überwinden sucht. Auch in der Geschichte Haras wurde ein solcher Mensch geboren. Es war ein Mann, und er schloss sich dem Turm an. Dieser Magier verfügte über die Gabe des Heilers und besaß ein gewaltiges Potenzial. Er war geradezu berufen, genial und … wahnsinnig. Er wurde zum größten Schreitenden seiner Zeit und hat mehr erreicht als jeder Mensch vor ihm und erst recht als jeder, der nach ihm kam. Dieser Mann hieß Cavalar und sollte in der Folge als Skulptor bekannt werden.« Lahen schwieg kurz. »Aber zurück zur Feindschaft unter den Schulen. Wie es heißt, befielen den Skulptor noch während seiner Ausbildung erste Zweifel, ob es ihm der lichte Funke gestatten werde, alle Facetten der Gabe zu beherrschen. Er glaubte, der Turm wie auch die Kreise von Sdiss arbeiteten sozusagen nur mit der einen Hand, während sie sich einredeten, die andere existiere gar nicht. Das
Weitere Kostenlose Bücher