Blitz: Die Chroniken von Hara 2
Schließlich gebot ich nicht über die Gabe.
Wir erklommen eine endlose Reihe von Wendeltreppen, deren Geländer mit allerlei geschmacklosen Voluten, Tieren und Pflanzen verziert waren. Irgendwann fing ich aus Langeweile an, die Stufen zu zählen, kam nach der fünfhundertsten aber aus dem Takt und ließ es wieder bleiben. Warum hatte sich dieser vielgerühmte Skulptor bloß keine bequemere Form des Aufstiegs einfallen lassen? Ich jedenfalls beneidete die Schreitenden nicht, die diese Treppen tagaus, tagein rauf- und runtersteigen mussten. Das war doch sterbenslangweilig!
Endlich blieben die Gardisten vor einer Tür stehen. Einer der Männer öffnete sie und forderte uns auf: »Tretet ein!«
Als ob wir eine andere Wahl hätten …
Vor uns lag ein großer, gemütlicher Raum mit einem Doppelbett auf massiven Bronzefüßen, einem Tisch, drei Stühlen und einem Schrank in der Ecke. Ein hoher Spiegel in einem Rahmen aus angelaufenem Silber, zwei Dutzend Kerzenhalter, ein Bücherregal voller Folianten sowie die Nachbildung eines aufrecht stehenden Schneeaffen rundeten das Bild ab. Auf dem Bett lagen saubere Unterwäsche und Oberbekleidung.
»Das ist euer Zimmer«, erklärte Shen. »Macht es euch bequem.«
»Zu gütig von euch, so für unser Wohl zu sorgen«, antwortete Lahen. »Schickt ihr den Henker jetzt gleich rauf? Damit wir uns einmal kennenlernen?«
»Rede keinen Unsinn«, herrschte Shen sie an. »Niemand will euch töten. Zumindest vorerst nicht.«
»Das beruhigt uns ja ungemein«, spie Lahen aus.
»Ihr findet hier alles, was ihr braucht. Zieht euch um. Essen und Wasser werden euch gebracht, ihr werdet also nicht verhungern. Dort drüben sind eine Waschnische und der Abtritt«, fuhr Shen ungerührt fort. »Ach ja, vor der Tür stehen Gardisten und Schreitende, und das Fenster ist vergittert. Verzichtet also besser auf jedwede Dummheit. Denn solltet ihr zu fliehen versuchen, braucht ihr nicht länger auf einvernehmliche Beziehungen zu hoffen. Dann werde selbst ich euch nicht mehr vor dem Kerker retten können. Und glaubt mir, die Gefängniszellen sind durchaus nicht so komfortabel wie dieses Zimmer.«
»Keine Sorge, wir werden keinen Ärger machen. Dazu gefallen uns diese Gemächer viel zu sehr«, versicherte ich, obwohl ich den Turm am liebsten so weit wie möglich hinter mir gelassen hätte. »Wie lange werden wir denn das Vergnügen haben, diese herrliche Aussicht zu genießen?«
»Das weiß ich nicht. Wenn die Zeit gekommen ist, wird man sich an euch wenden.«
»In dem Fall werden wir mit Freuden warten.«
»Spar dir diesen Ton«, verlangte Shen. »Ich versuche immerhin nach Kräften, eure Lage zu mildern.«
»Angesichts dieser Güte fehlen mir die Worte«, höhnte Lahen. »Was ist geschehen, dass du mit einem Mal so um deine Freunde besorgt bist?«
»Ihr zählt nicht zu meinen Freunden, und das wisst ihr ganz genau«, erwiderte er. »Im Übrigen wollte ich euch mal sehen, wie ihr an meiner Stelle …«
»Wir sind aber nicht an deiner Stelle!«, fiel ihm Lahen ins Wort. »Und werden es auch nie sein.«
»Umso besser«, sagte er, um dann fortzufahren: »Ich weiß nicht, wie die Mutter deine Gabe beurteilt, aber wenn du mich fragst, ist sie gefährlich. Und zwar nicht nur für andere, sondern auch für dich selbst.«
»Ach ja?«, mischte ich mich ein. »Nur hat dich das in keiner Weise gestört, als Lahen diesen Nekromanten in Hundsgras mit ihrer Gabe ausgeschaltet hat.«
»Erstens hatte ich da keine Wahl. Und zweitens … Ich bin, wie gesagt, nicht euer Feind, sonst hätte ich damals nicht die Verdammte ausgeschaltet, als sie Lahen bereits in ihrer Gewalt hatte.«
»Als ob du das getan hättest, um
uns
zu helfen!«
»Wohingegen ihr ja immer erst die Haut anderer gerettet habt, bevor ihr euch in Sicherheit gebracht habt«, parierte er. »Ich bitte dich, Grauer, wenn du mir mangelnde Anständigkeit vorwirfst, kann das ja wohl nur ein Scherz sein.«
Ich zuckte bloß die Achseln, als wollte ich ihm bedeuten: Dann lach doch.
Daraufhin verließ Shen wortlos unser Zimmer. Er schloss die Tür ab und legte sogar noch einen Riegel vor.
Ich stieß einen lauten Fluch aus.
»Das hilft auch nicht«, erklärte Lahen. »Ist mit deinem Bein wirklich alles in Ordnung?«
»Ja. Unser ruhmreicher Heiler hat sich dazu herabgelassen, die Wunde zu behandeln.«
»Interessant«, meinte sie, ehe sie in die Waschnische trat. »Ehrlich gesagt, hatte ich mich gefragt, ob er mit seinem Funken vielleicht nur dann in
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