Blitze des Bösen
nicht acht Uhr war, seufzte Blakemoor
müde und deutete auf den Aktenstapel mit ungelösten Fällen
auf seinem Pult. In der Zimmerecke stand ein halbes Dutzend
Pappkartons. Darin befanden sich Kopien von jedem Fetzen
Papier, auf dem etwas vermerkt war, das mit Richard Kraven
zu tun hatte. Die Informationen betrafen nicht nur die Morde in
Seattle, die man Kraven anlastete, sondern die aus allen
Staaten. Mehr als zwei Jahre hatten er und Lois Ackerly ihre
Zeit damit verbracht, die Mordfälle zu untersuchen, die erst mit
Kravens Festnahme ein Ende fanden.
Aber er wollte sich die Kartons noch einmal gründlich
durchsehen, eine Akte nach der anderen überprüfen, nach
etwas suchen, das ihm möglicherweise bisher entgangen war.
Er wollte zumindest einen der lokalen Fälle Kraven unstrittig
nachweisen. Die Beweise waren da; dessen war er sicher.
Wenn er nur akribisch in diesen Kartons suchen würde, mußte
er auf etwas stoßen, das ihm noch nicht aufgefallen war: eine
scheinbar unbedeutende Tatsache, die ihm schließlich den
letzten Zweifel, einen Fehler begangen zu haben, nehmen
würde.
Es mußte einfach einen Hinweis geben, den noch niemand
beachtet hatte. Während der zwei Jahre, in denen Kraven auf
seine Hinrichtung gewartet hatte, war es Blakemoor nicht
gelungen, ihn zu finden. Und vielleicht würde er eines Tages
enttäuscht zugeben müssen, daß er diesen kleinen Hinweis
nicht gefunden hatte, weil es ihn schlicht nicht gab.
Warum aber fühlte er, daß Kraven schuldig war, so, wie das
Gericht es auch gefunden hatte? In den letzten zwanzig Jahren
hatte er sich immer auf sein Gefühl verlassen können, es hatte
ihn nie getrogen.
Er seufzte. Vielleicht war es endlich an der Zeit, mit all den
Grübeleien aufzuhören, die Akten ins Archiv zu bringen, um
sie dort ruhen zu lassen, sie endlich aus seinem Blickfeld zu
verbannen, sie aus der Ecke seines Büros zu entfernen, wo sie
ihn tagtäglich zu verspotten schienen. Er sah McCarty an und
nickte in Richtung der Kartons. »Vielleicht sollte ich zuallererst mal diesen Mist loswerden.«
McCarty nickte kurz und machte sich auf den Weg hinaus,
drehte sich aber noch einmal um und warf noch einen Blick auf
den Zeitungsartikel, der ihm den Morgen gründlich verdorben
hatte. »Glaubst du, daß die Jeffers auf dieser Geschichte noch
weiter rumreitet?«
Mark Blakemoor dachte wieder an seine Unterhaltung mit
Anne, zuckte die Achseln und beschieß, den Ahnungslosen zu
spielen. Es wäre ja auch sinnlos gewesen, den Leiter der
Mordkommission noch mehr zu verstimmen. »Woher soll ich
das wissen? Ich kann ja nicht ihre Gedanken lesen.«
Brummend drehte sich McCarty ab, schlurfte aus Blakemoors Büro und fühlte schon, wie sich sein Magengeschwür
meldete. Wieder ein Tag, an dem er nur Milch trinken und
keines seiner heißgeliebten Salamisandwiches essen durfte. Na
ja, was soll’s, sagte er sich, das Leben besteht ja nicht nur aus
Salamisandwiches.
Als der Chef hinausging, kam Lois Ackerly mit einem
Tablett ins Zimmer, auf dem sie zwei Tassen Kaffee und eine
Tüte Berliner balancierte. »Was ist denn mit McCarty los?«
erkundigte sie sich und stellte die Tüte auf Marks Schreibtisch,
»er hat mir ja einen Blick zugeworfen, der jemand Zartbesaiteteren glatt getötet hätte.« Dann fiel ihr Blick auf die
zerknüllte Zeitung, die unter der Tüte hervorragte, und sie
begriff. »Oh, Anne Jeffers.« Sie sah ihren Partner forschend an.
»Hast du damit gerechnet, daß sie so etwas schreibt?«
»In etwa«, antwortete er. Er nahm sich eine Kaffeetasse und
einen Berliner.
»Und?« drängte Ackerly, als sie bemerkte, daß Mark ihr
nichts darüber sagen wollte.
»Und was?«
Ackerly ließ sich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch ihres
Partners fallen und betrachtete ihn mit einem Gesichtsausdruck, der zeigte, daß er ihr entweder alles sagen oder sich
darauf einstellen müsse, daß sie den restlichen Tag noch
schlimmer an ihm herumnörgeln würde, als dies seine Exfrau
getan hatte. Er deutete ihre Miene richtig, schloß die Bürotür
und erzählte von den Ereignissen des vergangenen Tages.
»Also, was glaubst du?« fragte seine Kollegin, als er fertig
war, »ist es vorbei oder nicht?«
Blakemoor zögerte erst, entschloß sich dann aber doch, sich
darauf zu verlassen, was ihm sein Gefühl sagte. Er nahm die
Zeitung, riß sie in Fetzen und warf sie in den Papierkorb. »Es
ist vorbei«, sagte er zu ihr, »was mich betrifft, ist der Fall
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