Blitze des Bösen
hat sich das selbst alles angetan. Er hat diese
Menschen getötet, und man hat es ihm nachgewiesen. Und
dafür mußte er bezahlen. Das ist die Wahrheit, Mutter!« fuhr er
fort und wollte aus der Küche gehen.
Edna sprang hoch, packte Rory am Arm und drehte ihn zu
sich, so daß er ihrem stechenden Blick nicht mehr ausweichen
konnte. »Sag sowas nicht!« zischte sie, »rede nie mehr so über
deinen Bruder! Nie mehr!«
Rorys Mund wurde trocken. Sein Magen schmerzte ihn wie
immer, wenn sie wirklich böse mit ihm war. Er nickte stumm,
wollte sich aus ihrem Griff winden, doch sie ließ ihn nicht los.
»Sag, daß es dir leid tut!« forderte Edna. »Sag es!«
Und Rory tat, wie ihm befohlen.
Nachdem er Abbitte geleistet hatte, ließ ihn seine Mutter los.
Er verließ das Haus und ging zur Arbeit. Seit seinem Abgang
von der High School war sein Arbeitsplatz das Montageband
bei Boeing.
Und wie immer fragte er sich, ob seine Mutter ihn jemals
lieben würde, wie sie Richard geliebt hatte. Er wußte, daß das
nie geschehen würde, denn wie sehr er sich auch anstrengte, er
konnte niemals wie Richard werden.
Aber vielleicht könnte er wenigstens so ähnlich werden wie
Richard.
13. Kapitel
Richard Kraven ist tot. Doch bei den
Angehörigen seiner Opfer sind unbeantwortete
Fragen und offene Wunden zurückgeblieben.
Richard Kravens letzte Erklärung hängt wie
ein Damoklesschwert über uns allen. Sollte er
die Wahrheit gesagt haben – was ich nicht
glaube –, dann lebt immer noch ein Mörder unter
uns.
Ich möchte deshalb Kravens letzte Erklärung
aufgreifen, aber nicht in der Absicht, ihn zu
entlasten. Vielmehr will ich mich erneut mit der
Mordserie auseinandersetzen, die man als die
»Kraven-Morde« bezeichnet hat. Ich suche in
erster Linie Antworten auf einige der noch
offenen Fragen.
Weiß man genau, wie viele gestorben sind?
Könnte es sein, daß sich in den Bergen und
Tälern unserer Umgebung noch weitere Leichen
befinden, die bislang noch nicht entdeckt worden
sind?
Und könnte nicht von einem dieser bisher
nicht gefunden Opfer vielleicht eine direkte Spur
zu Kraven führen, eine Spur, die in polizeilichen
Ermittlungen bislang nicht verfolgt wurde, die
aber schließlich unsere letzten Zweifel
zerstreuen würde? Ist es von der Polizei zuviel
verlangt, wenn man fordert, daß sie sich
weiterhin mit diesem grausigen Kapitel unserer
Geschichte befaßt?
Ich denke, das ist es nicht. Ich glaube, das
Schreckgespenst Richard Kraven wird noch so
lange über dieser Stadt schweben bis…
»Ich muß mit ihr reden! Ich muß sie unbedingt sprechen!«
Sheila Harrar sprach die Worte zwar laut aus, doch es war
niemand da, der sie hätte hören können. Es hätte auch keiner
verstanden, was sie meinte, denn in dem schäbigen Hotelzimmer, in dem Sheila jetzt zwei Monate wohnte, kannte man
seine Zimmernachbarn nicht, und wollte sie auch nicht kennenlernen. Die meisten Bewohner dieses Hotels lebten wie
Sheila von der Hand in den Mund. Jeden Morgen nach dem
Aufstehen sagten sie sich, daß sie es heute schaffen und einen
Job finden würden. Doch dann verlief jeder Tag wie der vorhergegangene. Meistens kam Sheila nur bis zum Park im
Pioneer Square, wo ihr jemand einen Drink aus einer schmutzigen Flasche anbot. Und Sheila sagte sich dann – wie all die
anderen auch –, daß sie nur einen Schluck nehmen und danach
weitergehen wollte.
Irgendwo mußte es doch jemanden geben, der ihr eine
Anstellung verschaffte. Aber nach dem ersten Schluck Wein
war es Sheila auch schon klar, daß es bereits zu spät war. Egal,
wohin sie ginge, überall würde man ihre Alkoholfahne riechen
und ihr dann diesen Blick zuwerfen, mit dem auch Indianer
immer angeschaut wurden.
» Wir sind keine Indianer, Ma. Wir sind die amerikanischen
Ureinwohner. Wir leben hier schon viel, viel länger als die
Weißen, und sie schulden uns etwas, denn Sie haben unsere
Leute getötet und unser Land geraubt. «
Als die Stimme ihres Sohnes in ihr widerhallte, fühlte sie,
wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Heute morgen gab sie
ihnen jedoch nicht nach, sondern wischte sich mit dem
dreckigen Ärmel ihrer besten Bluse die Augen trocken und
unterdrückte ein Schluchzen. Sie holte tief Atem, schaute von
der Zeitung auf, die sie aus der Lobby des Hotels einfach mitgenommen hatte, als sie vor einigen Stunden nach Hause
gekommen war, und starrte aus dem schmutzigen Fenster auf
die Straße. Im Zimmer gab es nichts zu sehen, denn sie
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