Blitze des Bösen
Aber als er sich im Schrankbett
des Gästezimmers, das einmal sein Zimmer gewesen war,
schlafen gelegt hatte, hatte er sich gefragt, warum er überhaupt
gekommen war. Den ganzen Tag hatte er das schwulstige
Gequatsche seiner Mutter über Richard über sich ergehen
lassen müssen: wie klug er war, wie vollkommen, was für ein
guter Sohn er stets gewesen sei. Rory hatte sich alles angehört,
so wie er das immer getan hatte, und auch verstanden, was es
wirklich bedeutete. Noch jetzt hallten ihm ihre Worte in den
Ohren:
Richard war klug – nicht so wie du!
Richard war vollkommen – nicht so wie du!
Richard war ein guter Sohn – nicht so wie du!
Sein ganzes Leben lang wußte er, wem ihre wirkliche Liebe
galt. Sogar in seiner Kinderzeit hatte sie ihm Richard ständig
als Ideal an Vollkommenheit vorgehalten. Warum hast du
keine so guten Zeugnisse wie Richard? Warum kannst du dich
nicht so gut benehmen wie Richard?
Richard konnte schon sprechen, bevor er acht Monate alt
war!
Richard konnte schon laufen, bevor er ein Jahr alt war!
Richard war ein Genie!
Richard, Richard, Richard!
Er hatte es immer und immer wieder in seiner Kindheit und
Jugend gehört, sogar später noch, als Richard aufs College
gegangen und schließlich in sein eigenes Haus gezogen war.
Rory selbst war sobald wie möglich ausgezogen und hatte sich
das kleine Appartement in Capitol Hill gemietet, wo er jetzt
schon zwölf Jahre wohnte. Edna war froh gewesen, als er
auszog. Das hatte sie ihm bewiesen, als sie ihm bei seinem
ersten Besuch sein altes Zimmer gezeigt hatte.
Es war nicht mehr sein Zimmer gewesen. Sein Bett und alles
andere, was ihm gehört hatte, war daraus verschwunden. Jetzt
stand ein Schrankbett an einer Wand, ein Fernseher an der
anderen und ein großer Lederstuhl in der Ecke, wo sein
Schreibtisch gestanden hatte. Ihre Worte damals, als er mit
einem flauen Gefühl im Magen sein ehemaliges Zimmer
wiedersah, waren für immer in seine Seele gebrannt: »Sieht es
jetzt nicht viel hübscher aus? Richard und ich haben das
gemacht. Sein Haus ist doch so klein, und wir dachten einfach,
es wäre schöner für ihn, wenn er hier noch einen Raum ganz
für sich allein hätte – wo er immer hinkommen kann, wenn er
gerade Lust hat.«
An diesem Tag hätte Rory sie am liebsten geschlagen.
Aber er hatte es nicht getan.
Statt dessen tat er, was er von jeher getan hatte: er stimmte
zu, daß das Zimmer schön sei und Richard es sicherlich
brauchen könnte.
Ihm war es immer darauf angekommen, daß Frieden herrschte. Er hoffte, wenn er nichts fragte, keine Aufmerksamkeit
von ihr forderte, nichts tun würde, das sie kritisieren könnte,
daß ihn seine Mutter vielleicht eines Tages genauso lieben
würde wie Richard.
Die Jahre waren vergangen, und der Schmerz hatte in ihm
genagt, aber mit stoischer Ruhe hielt er alles aus. Er war sicher,
daß seine Mutter ihn früher oder später auch liebgewinnen
würde. Als dann die ersten Morde bekannt wurden und die
Leute allmählich Richard verdächtigten, war er ganz sicher
gewesen, endlich die Gunst seiner Mutter erringen zu können.
Statt dessen aber kümmerte sie sich noch mehr als früher um
alles, was Richard betraf. Und jedem, der es hören wollte,
erzählte sie, daß Richard so etwas nie getan haben konnte.
Schließlich war er doch ein guter Junge…
Richard war vollkommen!
Richard, Richard, Richard!
Und jetzt, am Tag nach Richards Hinrichtung, war wieder
alles beim alten! Richard war vollkommen, Rory ein Idiot –
auch mit Richards Tod hatte sich nichts geändert.
Warum? Warum konnte sie ihn nicht lieben?
Warum konnte sie sich nicht so für ihn einsetzen, wie sie das
für Richard getan hatte?
Was hatte er ihr denn nur getan?
Anstatt ihr die Fragen, die sich in ihm überschlugen, an den
Kopf zu werfen, sah er nur vorsichtig von der Zeitung hoch.
»Was gibt’s Mutter? Ich habe gerade gelesen.«
»Den Sportteil?« fragte Edna. Ihr vernichtender Ton ließ
Rory zusammenzucken, doch sie nahm das kaum wahr. »Wie
kannst du dich für Sport interessieren, nach dem das mit deinem Bruder passiert ist? Macht es dir eigentlich gar nichts aus,
was die ihm angetan haben?« Sie nahm die Zeitung und hielt
ihm Anne Jeffers Artikel vor die Nase. »Kümmert es dich denn
nicht, daß diese Frau das Andenken an deinen Bruder in den
Dreck zieht?«
Rory nahm die Zeitung, warf einen flüchtigen Blick darauf
und stand auf. »Die haben Richard gar nichts getan, Mutter«,
sagte er. »Er
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